Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge:Wissen wir nicht

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328 Euro erhält ein Asylbewerber im Monat. Doch diese Sozialleistung lässt sich kürzen - wenn tragfähige Erkenntnisse darüber vorliegen, ob diese Sanktion angemessen ist. Ist das so? Eine Antwort der Bundesregierung fällt mager aus. Und könnte bald das Bundesverfassungsgericht interessieren.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Als das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2010 eine Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze forderte, dauerte es noch gut zwei Jahre, dann waren die Leistungen für Asylbewerber an der Reihe. Auch Flüchtlingen, so entschied das Gericht, müsse ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährt werden. 2019 stand dann wieder Hartz IV auf der Karlsruher Tagesordnung, es ging diesmal um die Sanktionen gegen Arbeitsuchende, die Jobs ablehnen oder Termine versäumen. Wieder verfassungswidrig, wenigstens teilweise, fand das Gericht.

Und weil das Gericht schon 2012 sein Hartz-IV-Urteil in die Welt der Asylbewerber übertragen hatte, warf das umgehend die Frage auf: Was bedeutet das jetzt für deren Unterstützung? Denn auch dort wird kräftig gekürzt, zum Beispiel, wenn einer bei der Ausreise nicht so mitzieht, wie die Behörde dies möchte.

Bedarf für eine höchstrichterliche Klärung gäbe es allemal. Spätestens nach der Flüchtlingskrise von 2015 sind die Leistungen wieder zum Politikum geworden, das Kürzen hat Konjunktur. Zugleich macht das Karlsruher Urteil zu den Hartz-IV-Sanktionen deutlich, dass sich das Existenzminimum nicht beliebig verkleinern lässt. Die Menschenwürde ist nicht relativierbar. Das gilt auch für Asylbewerber, deren Sätze bereits ohne Kürzung niedriger liegen: Wer als Alleinstehender in einer Gemeinschaftsunterkunft lebt, bekommt 328 Euro - bei Arbeitsuchenden sind es 446 Euro.

Wer gar nicht im Land sein sollte, erhält weniger Geld

Gekürzt wird beispielsweise, wenn jemand bei der Beschaffung der Papiere nicht mitwirkt. Oder wenn er gar nicht in Deutschland sein sollte, sondern in einem anderen für sein Verfahren zuständigen EU-Staat. Dabei gibt es immer wieder unberechtigte Kürzungen, weil Flüchtlinge in Länder wie Griechenland, wo prekäre Bedingungen drohen, überhaupt nicht mehr überstellt werden. Gekürzt wird auch, wenn jemand nur wegen der Sozialleistungen nach Deutschland gekommen ist - ein äußerst komplizierter Paragraf, weil kaum herauszufinden ist, ob Flüchtende wirklich auf das Sozialsystem aus waren oder doch eher auf den Arbeitsmarkt.

Jedenfalls mehren sich die Stimmen, denen die Kürzungen zu drastisch sind, auch weil sie kaum Spielraum für Menschlichkeit lassen; solchen Kürzungen fällt schnell mal der "Mehrbedarf für Schwangere" zum Opfer, ebenso die dringend nötige Psychotherapie für einen traumatisierten Kriegsflüchtling. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat in einem Beschluss von Ende 2019 bereits Zweifel geäußert, ob die Einschränkungen verfassungsgemäß sind.

Karlsruhe hat zwei entscheidende Vorgaben gemacht

Entscheidend dürften in diesem Zusammenhang zwei Vorgaben aus dem Sanktionen-Urteil von 2019 sein. Erstens darf eine Kürzung nicht darauf ausgerichtet sein, "repressiv Fehlverhalten zu ahnden, sondern darauf, dass Mitwirkungspflichten erfüllt werden". Kürzungen sind also keine Strafe, sondern entfalten Druck, damit die Betroffenen mitziehen. Zweitens muss sich der Gesetzgeber Gewissheit verschaffen, dass die Kürzungen diesen Zweck tatsächlich erfüllen - immerhin geht es um das Existenzminimum, das zur Menschenwürde gehört. Je länger so ein Sanktionsparagraf in der Welt ist, "umso tragfähigerer Erkenntnisse bedarf es dann, um die Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit dieser Sanktion zu belegen", schrieb das Gericht.

Diese Aussage hat nun die Bundestagsfraktion der Linken veranlasst, sich bei der Bundesregierung mal mit einer Großen Anfrage nach diesen Erkenntnissen zu erkundigen. Immerhin kennt man Kürzungen der Asylbewerberleistungen schon seit mehr als 20 Jahren. Nun liegt die Stellungnahme des Bundesarbeitsministeriums vor, man kann sie so zusammenfassen: große Frage, kleine Antwort.

Die Prüfung, ob das Urteil von 2019 Konsequenzen hat, sei noch nicht abgeschlossen, heißt es auf Frage eins. Untersuchungen oder Studien zu "Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit" der Sanktionen, habe die Regierung weder unternommen noch geplant, schreibt sie unter Nummer zwei. Informationen zu Untersuchungen in den Ländern? Liegen nicht vor, lautet Antwort drei. Welche Schlussfolgerungen man aus etwaigen Erkenntnissen ziehe? Siehe Antwort eins bis drei.

Eine Verfassungsbeschwerde ist derzeit anhängig

Und so geht es weiter. Um wie viel Prozent genau gekürzt werde? Könne man nicht beantworten, weil die Kosten der Gemeinschaftsunterkunft "nicht pauschal in Euro darstellbar sind". Dass sogar Leistungen gestrichen werden können, die das Gesetz selbst als "unerlässlich" bezeichne? Für den Schutz der Gesundheit werde jedenfalls gesorgt. Ob die Leistungen an Minderjährige nie gekürzt werden dürften? Könne man so allgemein nicht sagen.

Zur Frage, welches "legitime Ziel" mit den Kürzungen verfolgt werde, sagt die Regierung immerhin lakonisch: Mitwirkung im Asylverfahren und Verhinderung rechtsmissbräuchlichen Leistungsbezugs. Und dann stellt die Linksfraktion die Frage, die das Verfassungsgericht bei den Hartz-IV-Sanktionen so sehr interessiert hat: Auf welche empirischen Erkenntnisse stützt man sich? Funktioniert es wirklich, die Flüchtlinge mit Kürzungen zur Mitwirkung zu veranlassen? Was weiß man da? Die Regierung zuckt mit den Achseln. Wissen wir nicht. Die Akten liegen bei den Kommunen.

Für Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke, Mitinitiatorin der Anfrage, ist klar, dass die Kürzungsregeln "verfassungswidrig und maßlos" sind. "Deutlicher als mit diesen Nicht-Antworten konnte die Bundesregierung nicht zeigen, dass ihr die Menschenwürde von Geflüchteten nichts wert ist."

Ob das so ist, könnte nur ein neues Karlsruher Verfahren zeigen. Derzeit ist eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Bundessozialgerichts anhängig, das sich zwar auf eine alte Gesetzesfassung stützt, aber die neue ist eher noch härter. Dort ging es um Kürzungen, die knapp über der Hälfte des Hartz-IV-Satzes liegen. Die obersten Sozialrichter hatten keine Bedenken.

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