Süddeutsche Zeitung

Migration:Britische Küstenwache soll Flüchtlinge zur Umkehr zwingen

Weil immer mehr Menschen über den Ärmelkanal nach Großbritannien flüchten, reagiert London drastisch. Außerdem stellt es eine neue Bedingung für eine Geldzahlung. Frankreich ist empört.

Von Michael Neudecker, London

Zwischen Dover und Calais liegen ungefähr 33 Kilometer Wasserweg, es ist die engste Stelle im Ärmelkanal zwischen England und Frankreich. Der Ärmelkanal gilt als gefährlich, wegen des starken Schiffsverkehrs und den tückischen Strömungen. Aber an guten Tagen ist die Wasseroberfläche relativ ruhig, und England hat gerade ein paar sehr gute Tage hinter sich, voller Sonnenschein, Temperaturen bis zu 30 Grad, selbst in Küstennähe war nur leichter Wind zu spüren. Die Zahl der Menschen, die in oft zu kleinen Schlauchbooten über den Ärmelkanal von Frankreich ins Vereinigte Königreich zu flüchten versuchen, ist deshalb wieder stark gestiegen; allein diese Woche sollen es mehr als 1500 gewesen sein. Insgesamt haben damit in diesem Jahr, Stand Anfang September, mehr als 14 000 Menschen das britische Festland auf diesem Weg erreicht, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Im gesamten vergangenen Jahr waren es knapp 8500.

Von einer Flüchtlingskrise ist nun im Königreich die Rede, seit Monaten schon ringt die britische Innenministerin Priti Patel mit ihrem französischen Kollegen Gérald Darmanin um eine Lösung. Auch beim Treffen der G7-Innenminister in London, das am Donnerstag zu Ende ging, waren die Flüchtlinge im Kanal ein Thema. Patel zählt zu den besonders rechts ausgerichteten Konservativen. Härte zu zeigen gehört für sie also zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Politik. Dass das Vereinigte Königreich nicht nur weitaus weniger Flüchtlinge aufnimmt als die anderen größeren europäischen Länder, sondern auch deutlich weniger Asylgesuche zu bewältigen hat, spielt für sie offenbar keine große Rolle.

In der wöchentlichen Fragerunde mit dem Premierminister sagte Boris Johnson am Mittwoch, er halte die Vorgänge im Kanal, insbesondere das kriminelle Geschäft der Menschenschmuggler, für "abscheulich" und "eine Manipulation der Hoffnungen von Menschen". Das UK hänge zwar sehr davon ab, wie sich Frankreich in dieser Sache verhalte, sagte Johnson, aber "wir werden sicherstellen, dass wir jedes uns zur Verfügung stehende Mittel nutzen, um dies zu stoppen". Bald danach teilte die Regierung mit, Johnson habe ein Gesuch Patels unterzeichnet, das es den Grenzbehörden erlaube, kleinere Boote in französisches Gewässer zurückzudrängen, damit dann die französische Seite für deren Rettung verantwortlich ist. Die Beamten absolvieren dafür ein spezielles Training, die Maßnahmen sollen schon bald zum Einsatz kommen.

Zu Beginn des Sommers hatte Patel Frankreich 63 Millionen Euro zugesichert, um die Grenzkontrollen an der französischen Küste zu verstärken. Nun aber ließ Patel wissen, das Geld werde nur dann fließen, wenn Frankreich 75 Prozent der Boote davon abhalten werde, in britische Gewässer einzudringen. Darmanin schrieb am Donnerstag auf Twitter, er habe Patel beim Treffen in London "sehr klar" gesagt, dass Großbritannien zu seiner Zusage stehen sollte. Frankreich werde keinerlei "finanzielle Erpressung" akzeptieren, auch "keine Praktiken, die Internationalem Seerecht widersprechen".

Es wird nun also politisch gezerrt und gedroht und beschuldigt. Die ohnehin schon komplizierte Zusammenarbeit der beiden Länder an den Ufern des Ärmelkanals hat Patels Vorgehen eher nicht verbessert. Während Frankreich das von Patel angekündigte Vorgehen, Boote zum Umkehren zu zwingen, scharf kritisiert, ließ Boris Johnsons Sprecher am Donnerstag wissen: Das Vorgehen sei "sicher und legal".

Selbst bei manchen von Patels konservativen Kollegen gibt es allerdings Zweifel. Der Abgeordnete Tim Loughton etwa sagte in einem Interview mit Radio 4, der Plan würde "niemals funktionieren", schließlich bestünde die Gefahr, "dass Menschen ertrinken". Bilder, wie die britische Küstenwache übervolle Flüchtlingsboote in Schwierigkeiten bringt, will dann doch niemand.

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