Süddeutsche Zeitung

Flüchtling aus Ghana:"Ich saß drei Tage neben einem Toten"

Er wurde entführt, geschlagen und in ein überfülltes Flüchtlingsboot gepfercht. Der Afrikaner Yahya ist von Ghana nach Sizilien geflohen und hat dabei Unerträgliches erlebt. Jetzt muss er die Behörden fürchten.

Von Andrea Bachstein, Catania

Man merkt ihm nicht an, was er schon alles erlebt hat. Gerade mal etwa 20 Jahre alt ist Yahya. Er kommt aus Ghana, ist 3300 Kilometer über Libyen nach Italien geflohen, er wurde entführt, verkauft und verprügelt. Drei Tage überquerte er auf einem überfüllten Flüchtlingsboot das Mittelmeer, 2011 kam er in Lampedusa an. Yahya lebt jetzt in Catania auf Sizilien und geht dort zur Schule. Er sitzt an der Piazza Duomo mit dem berühmten Elefantenbrunnen. Wenn er spricht, wirkt er gelassen, oft zieht er ein großes Lächeln über sein rundes Gesicht. Was er erzählt, klingt weniger freundlich. Das ist seine Geschichte.

"Meine Mutter starb, als ich drei war, sie war krank. Meinen Vater kenne ich nicht. Aufgezogen hat mich mein Bruder - er ist neun Jahre älter als ich. Als ich 14 oder 15 Jahre alt war, wurde es für meinen Bruder schwierig, für uns beide zu sorgen. Ich habe dann eine Weile als Automechaniker gearbeitet und wäre gern auf eine Technikschule gegangen, aber das konnte sich mein Bruder nicht leisten. Er hat mir dann etwas Geld gegeben, und ich habe mich auf den Weg zu meiner Tante nach Libyen gemacht. Wir hatten gehört, dass die Libyer gute Menschen sind und man dort Arbeit findet.

Drei Monate habe ich nach Libyen gebraucht. Ich bin mit Bussen gefahren und zu Fuß gelaufen, auch durch die Wüste. Irgendwo konnte ich nicht mehr weiter. Leute aus dem Tschad haben mich gefunden und nach Libyen gebracht. In der Gegend von Sabhà haben sie mich an einen Araber verkauft. Ich wurde in ein Gebäude gebracht, wo schon Dutzende andere Menschen eingesperrt waren. Morgens gab es ein Stück Brot, sonst nichts. Wenn wir uns beschwert haben, wurden wir geschlagen. Wir waren Geiseln. Um freizukommen, mussten wir Verwandte anrufen. Die sollten Geld schicken und uns freikaufen. Mein Bruder hatte kein Geld, meine Tante in Libyen schickte 1500 Dinar (etwa 977 Euro), dann durfte ich zu ihr fahren. Sie suchte mir einen Job als Putzkraft, ich musste erst mal die Schulden bei ihr abarbeiten. Ich hatte keine Papiere, aber konnte ein Jahr bei einem Ägypter und seiner Familie arbeiten. Sie wohnten bei As Sarah.

Bomben explodierten, Kugeln flogen

Dann geschah etwas, was ich nie vergessen werde. Es war ein Freitag im Februar 2011, in Ägypten trat Präsident Hosni Mubarak zurück. Am selben Tag begann in Libyen der Aufstand gegen Gaddafi. Ich dachte, ich bin sicher, weil ich in einer Gegend arbeitete, wo vorwiegend Ausländer leben. Doch die flüchteten alle - auch mein ägyptischer Arbeitgeber und seine Familie. Er gab mir 1000 Dinar (etwa 650 Euro) und ließ mich allein im Haus zurück. Drei Monate blieb ich noch. Der Aufstand gegen das Regime wurde immer schlimmer, Bomben explodierten, Kugeln flogen, das war wie ein Erdbeben. Manche afrikanische Länder schickten Flugzeuge, um ihre Leute zurückzuholen. Meine Freunde, die auch Haushaltshilfen waren, gingen ebenfalls weg. Ein paar von ihnen wurden von Gangs getötet, weil die ihr Geld wollten. Ich wollte auch weg. Ich rief meine Tante an, sie sollte mir mein Erspartes bringen, das ich bei ihr aufbewahrt hatte. Ihr Mann werde es mir aushändigen, sagte sie. Ich wartete und wartete, und dann sagte sie mir, dass er unterwegs überfallen worden sei, mein Geld sei weg. Wirklich geglaubt habe ich das nicht.

Als ich eines Tages zur Moschee gehen wollte, hat mich eine bewaffnete Bande geschnappt. Sie wollten Geld, ich hatte keines, sie verprügelten mich, meine Beine waren so kaputt, dass ich fast drei Wochen nicht laufen konnte. In Libyen herrschte schon vor dem Krieg Willkür gegen Ausländer, aber nach diesem Überfall war mir klar, dass ich aus diesem Land weg musste. Ich wusste, dass auf dem Meer viele Menschen sterben, aber in Libyen hast du immer ein Gewehr im Genick. Auf dem Meer hast du wenigstens eine Überlebenschance.

Ich zog weiter nach Tripolis, dort habe ich eine Weile Autos gewaschen. Dann griff mich das Militär auf, sie brachten mich in ein Lager außerhalb der Stadt, nahe am Meer. Ich wurde nicht zur Arbeit geschickt, weil ich noch so jung war. In Libyen werden die Flüchtlingslager vom Militär kontrolliert. Jeder Erwachsene muss für die Flucht mindestens 1000 bis 1500 Dinar bezahlen (zwischen 650 und 1000 Euro). Die Flüchtlingsboote werden oft von Militärs organisiert, sie stehen in Funkkontakt mit Leuten in Malta und Italien. Die melden, wie die Wetterlage ist. Wenn das Wetter gut ist, geht es sofort los.

Zwei Monate war ich im Camp. Wir haben mit den Leuten vom Militär gestritten, wir wollten endlich los, aber sie sagten uns, das Wetter sei zu schlecht. Dann war es soweit. Um ein Uhr morgens wurden wir geweckt. Aber das Boot war aus Holz, alt, schmutzig und in einem schlechten Zustand. Diejenigen, die das Boot steuerten, waren keine Seeleute, sondern auch Flüchtlinge. Sie hatten ein GPS und ein Satellitentelefon bekommen, mehr nicht. Wir waren ungefähr 600 Menschen an Bord, gestapelt wie Holz, einer über dem anderen. Es war unmöglich sich zu bewegen.

Deshalb habe ich erst bei der Ankunft gemerkt, dass ich die ganze Zeit neben einem Toten gesessen hatte. Der Mann war irgendwann auf der Überfahrt gestorben. An Bord gab es nur Wasser und Kekse. Angst hat mir das Meer nicht gemacht, meine Probleme in Libyen waren schlimmer gewesen. Drei Tage dauerte die Reise, dann brachten uns italienische Behörden auf die Insel Lampedusa.

Sein genaues Alter wusste er nicht

Jemand hatte mir gesagt, es wäre besser, wenn ich bei der Ankunft behaupte, älter zu sein. Also habe ich gesagt, ich wäre 22. Aber das haben mir die italienischen Polizisten nicht geglaubt und mich immer wieder gefragt. Irgendwann haben sie bei meinem Alter einfach "15 Jahre" eingetragen. Ich wusste nicht genau, wie alt ich bin, 15 schien mir zu jung. Irgendwann habe ich meinen Bruder angerufen, er sagte mir, dass ich 16 sei. Ich liebe meinen Bruder sehr, ich habe ihn auch angerufen, bevor das Schiff losfuhr und ihm gesagt, er soll für mich beten. Dann habe ich für ihn gebetet.

Nach ein paar Tagen auf Lampedusa kam ich nach Sizilien und dort erst in ein Zentrum bei Sigonella und dann in das Heim in Catania, wo ich jetzt lebe. Ich habe in zwei Wochen Italienisch sprechen gelernt, ohne Hilfe. Die Leute konnten kaum glauben, wie schnell mir das gelungen ist. Ich schreibe sogar Gedichte auf Italienisch. Ich besuche jetzt eine technische Oberschule und bin der einzige Afrikaner in der Klasse. Vergangenes Jahr habe ich die Mittlere Reife erlangt.

Aufenthaltsgenehmigung läuft aus

Ich will Abitur machen und Elektroingenieur werden, etwas aus meinem Leben machen. Aber wahrscheinlich kann ich die Schule nicht beenden. Nächstes Jahr läuft meine Aufenthaltsgenehmigung aus, und ich werde 21. Dann muss ich aus dem Heim und darf auch nicht auf der Schule bleiben - wenn ich nicht doch eine Aufenthaltsgenehmigung bekomme. Die Italiener wollen meine Geschichte nicht hören. Man hat mehr Erfolg auf ein Bleiberecht, wenn man lügt und Sachen erfindet. Ich kenne die Geschichten anderer Flüchtlinge, weil ich für sie oft übersetze. Ich spreche drei afrikanische Sprachen, ein bisschen Arabisch, Englisch und Italienisch.

Am liebsten gehe ich zur Schule. Jetzt wache jeden Morgen auf und zerbreche mir den Kopf, was aus mir werden soll, wenn ich nicht weiter lernen kann und aus dem Heim muss - ohne Papiere. Wo soll ich denn hin? Ich kenne einige, denen es so ergangen ist. Sie haben angefangen zu klauen, schlafen auf der Straße. Dort will ich nicht enden. Aber wie soll ich arbeiten ohne Genehmigung, und wo es sowieso kaum Arbeit hier gibt? Mit meiner Aufenthaltsgenehmigung darf ich in Europa reisen, aber in keinem anderen Land bleiben. Ich habe mich über das Internet schon bei Technik-Schulen in anderen Ländern beworben, auch in Deutschland. Aber dort sagten sie mir, in Deutschland könne ich nur studieren, wenn ich in Europa geboren bin.

Italien hat viel für mich getan, aber es reicht nicht. Bildung ist mehr wert als Geld. Wenn ich einen guten Schul- und Uni-Abschluss habe, kann ich alles machen. Ich will, dass Europa die Erlaubnisregeln ändert, so dass ich überall arbeiten kann. Ich will ein guter Schüler und Student sein. Ich will nicht irgendwelche Jobs machen, ich will meinen Traum leben und Elektrotechnik studieren. Was in Europa passiert, beschäftigt mich, Afrika interessiert mich im Moment nicht. Aber wenn etwas aus mir geworden ist, könnte ich helfen, etwas in Afrika aufzubauen.

Die Europäer haben uns in der Kolonialzeit verkauft, die Bodenschätze geraubt und in Armut und Elend zurückgelassen. Heute kommen die Afrikaner nur nach Europa, um eine Zukunft zu haben. Ich will kein Sklave sein, ich will ein neues Leben aufbauen. Ich könnte versuchen, nach Deutschland zu gehen. Aber da müsste ich wieder bei null anfangen. Also bleibe ich und versuche, die Probleme hier zu lösen. Aber damit Kriege und Krisen enden, müssen wir Frieden miteinander schließen und aufhören, uns gegenseitig zu versklaven. Meine Helden sind Martin Luther King und Malcolm X.

"Mein Chef beleidigt mich jeden Tag"

Eine Freundin habe ich keine, das will ich nicht, obwohl mich die Mädchen mögen, ich bringe sie zum Lachen. Aber ich will keine Familie haben, ich will keine Kinder ins Elend dieser Welt setzen. Außerdem bin ich im Moment zu beschäftigt. Montags bis samstags geh ich von 8 bis 14 Uhr in die Schule. Danach gehe ich in die Moschee, außerdem oft in die Kirche S. Egidio, da kennen mich alle.

Die Hausaufgaben mache ich unterwegs auf der Straße, ab 16 Uhr arbeite ich in einem Lokal. Eigentlich nur fünf Stunden pro Tag, aber tatsächlich muss ich oft bis Mitternacht, manchmal bis zwei, drei Uhr in der Früh Teller spülen. Mein Chef beleidigt mich trotzdem jeden Tag. Als Gehalt waren 600 Euro pro Monat ausgemacht, aber er zahlt mir das Geld nie auf einmal, sondern gibt mir hin und wieder 20 Euro, das macht es schwer, etwas zu sparen. Aber der Job ist bald vorbei, dann suche ich mir einen neuen. Vom Heim bekomme ich 15 Euro Taschengeld in der Woche, das reicht nicht. Ich will ja auch meine Familie anrufen. Mein Bruder meldet sich ab und zu. Er sagt, er wolle nur, dass ich glücklich bin. Aber was soll aus mir werden? Ich weiß es nicht."

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