Süddeutsche Zeitung

Flucht übers Mittelmeer:Vom Boot auf die Bühne

Blutige Ohren, tote Kinder, verbrannte Haut: Pouya Shakib und Mamadou Sako (Name von der Redaktion geändert) haben auf ihrer Flucht über das Mittelmeer die Hölle durchlebt. In Deutschland suchen sie nach einer Art, sich mitzuteilen. Zwei Protokolle.

Von Lisa Böttinger

"Wenn ich heute als 'Rotkäppchen auf der Flucht' auf der Bühne stehe, kann ich fast über meine Geschichte lachen. Beide gingen wir in den Wald; Rotkäppchen traf einen bösen Wolf, ich einen Schlepper. So geht die Geschichte, die wir für Grundschüler in Augsburg spielen. Ich wollte schon immer Schauspieler werden.

Wer hat Angst vorm bösen Taliban?

In Afghanistan habe ich gut verdient, ich hatte alles - außer Sicherheit. Dass ich flüchten muss, wusste ich, als sie meinen Vater töteten. In meiner Heimatstadt Herat habe ich als Zahnarzt in einem französischen Krankenhaus gearbeitet. Ein Haus, ein Auto, ein Leben - finanziert von Ausländern aus dem Westen. Das sahen die Taliban nicht gerne. Ihre Bombe schlug in meine Wohnung ein, als wir gerade zu Abend aßen.

Aus Herat sind es nur zwei Stunden nach Iran. Ich war nach zehn Tagen dort. Du musst dich immer verstecken. Freunde gibt es unterwegs keine. Denk an dich selbst und an den nächsten Tag. Ich habe nicht hingeschaut, als die Leute vor uns von iranischen Grenzsoldaten erschossen wurden, vielleicht 20, vielleicht mehr, ich musste rennen.

Für Geld schneiden sie dein Ohr ab

Auf dem Weg hierher kannst du niemandem vertrauen, aber manchmal musst du. Die Schlepper sind deine Feinde, sie wissen genau, ob du Geld hast oder nicht. Und sie tun alles dafür, es zu kriegen. In Griechenland sah ich Familien, die ein kleines Paket mit dem Ohr eines Sohnes oder Vaters geschickt bekamen. Das nächste Mal kommt der Kopf, schrieben sie dazu.

Mehr Flüchtlingsschicksale

haben acht SZ-Reporter für das Buch Zwei dokumentiert. Nachzulesen in der Wochenendzeitung oder der digitalen Ausgabe.

Ich ließ mein ganzes Geld bei Freunden in Kabul, sie schickten es per Western Union, wenn ich welches brauchte. Bei meinem dritten Versuch, mit dem Schiff über das Mittelmeer zu kommen, schickten sie mir zum letzten Mal was. Das war jetzt alles, Pouya, schrieben sie mir. Diesmal kam ich am anderen Ufer an.

Ich spiele um Leben und Tod

'It's a game', sagten die Schlepper, wenn sie wieder ein geklautes Schiff über das Mittelmeer geschmuggelt hatten. Mein Spiel begann 2009, dauerte 20 Monate und führte über Iran, die Türkei und Griechenland nach Europa. Nach zwei Tagen und einer Nacht auf einem weißen Metallkahn, versteckt in einem Lastwagen voller Baumwolle, warfen die Schlepper uns an Land. 20 000 Euro habe ich ihnen bezahlt, um dann nur mit meiner Kleidung am Körper vor einer Felsenklippe zu stehen.

Ich denke oft an meine afghanische Band, meine sechs Brüder und meine Mutter. In Augsburg habe ich ein neues Zuhause gefunden: Im Grandhotel Cosmopolis leben Flüchtlinge, Künstler und Menschen auf der Durchreise. Für sie kann ich meine Musik spielen, das 'Rotkäppchen' und bald einen Mann, der seine letzte Ruhestätte sucht.

So heißt das Stück des Jungen Theaters: Letzte Heimat. Dass ich die Flucht nach Deutschland überstanden habe, ist die Rolle meines Lebens. Vielleicht komme ich aber doch mal nach Hause zurück. Wenn ich sterbe, soll meine letzte Heimat Afghanistan sein."

Pouya Shakib

"Niemand will irgendwo ein Fremder sein. Aber zu einer richtigen Heimat gehört doch auch ein Leben, oder? Eine Arbeit, eine Zukunft, ein Sinn? Das alles hatte ich in Kayes nicht, im Westen Malis, wo du nur einen Job findest, wenn du schon reich bist oder deine Familie für die Regierung arbeitet. Meine Eltern wollten mich nicht gehen lassen, also schlich ich mich heimlich nachts davon.

Geh weg, oder du stirbst

In Kayes nennen sie mich 'Allemand', der Deutsche. Seit ich Oliver Kahn zum ersten Mal im Fernsehen gesehen habe, will ich Deutsch lernen. Als ich zum ersten Mal das Meer sah, wusste ich, dass dieser Weg nur zum Sterben da ist. Dann kam unser Holzboot. Als Letzter stand ich in einer Schlange von ungefähr vierzig Leuten am Strand von Marokko und weinte.

Ich dachte an meine Eltern, die ich zuletzt vor drei Jahren gesehen hatte. So lange hatte ich gebraucht, um zu Fuß durch Mali, Algerien und Marokko zu kommen, bis an diesen verdammten Strand. Jetzt wollte ich nicht mehr einsteigen. Den Schleppern war es egal, dass ich versprach, der Polizei nichts zu sagen - sie zwangen mich auf das Boot. Wie zuhause in Kayes gab es keine Wahl: Geh weg, oder du stirbst. Wir setzten uns in zwei Reihen hintereinander, die Arme vor den Bäuchen verschränkt.

Nach fünf Tagen löste sich meine Haut unter der sengenden Sonne vom Körper ab. Dann gingen uns der Sprit und das Trinkwasser aus. Zuerst starben die Kinder, dann mein Vordermann, dann meine Hoffnung.

Wir haben doch schon genug Leichen hier!

Die Schlepper sagen: Wenn du ein Boot nach Europa steuern kannst, musst du nichts bezahlen. Also steuern die, die kein Geld haben. Und keine Ahnung. Ein paar Männer schlugen wütend auf unseren Fahrer ein. Er flehte sie an, wir haben doch schon genug Leichen hier. Sie schwammen überall um unser Boot herum, ich sehe sie noch, jede Nacht, wenn ich die Augen schließe.

Drei Nächte später trieb unser Boot mit zwanzig Leuten an die Küste von Gran Canaria. Nach einer Woche fragten sie uns nach unseren Namen und schickten uns nach Barcelona, dann nach Berlin. Dort hörte ich es wieder: Deutsch. Mit mir sprach aber niemand.

Seit fast einem Jahr bin ich in München. Jeden Tag spiele ich Fußball mit den anderen Flüchtlingen. Ich suche aber jemanden, der Deutsch mit mir spricht, damit ich endlich die Sprache lernen kann. Schließlich will ich mehr sagen können als 'Hallo', wenn ich Oliver Kahn hier einmal über den Weg laufe."

Mamadou Sako (Name von der Redaktion geändert)

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Quelle:
SZ vom 25.4.2015/sim
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