Nach 40 Minuten Fußmarsch durch kniehohen Schnee ist das abgelegene Gehöft erreicht. Es ist ein Ort des Untergangs. Erst ist hier der herrschaftliche Gutshof untergegangen, auf dem schon zu k.u.k.-Zeiten Landwirtschaft betrieben wurde. Dann folgte der Untergang Jugoslawiens und mit ihm das Ende der Agrargenossenschaft, die sich hier eingerichtet hatte. Seitdem sind die verstreut liegenden Gebäude verfallen.
Durch die Fensterhöhlen des alten Herrenhauses pfeift der Wind, in den Stallungen brechen die Dachbalken weg. In einem der alten Schuppen hockt Ahmad Ibra auf einem Holzbrett, rollt Teig aus mit einem abgebrochenen Plastikrohr und legt die Fladen sorgsam auf ein Eisenblech über dem offenen Feuer. Beißender Rauch füllt den Raum. "Seit fünf Monaten sind wir hier", sagt er. "Fünf Mal haben wir versucht, über die Grenze zu kommen."
"Sobald der Schnee geschmolzen ist, machen wir uns auf den Weg"
Ahmad Ibra, 32, stammt aus einem Dorf in Pakistan. Zusammen mit ungefähr 40 Landsleuten hat er hier auf dem Gelände Unterschlupf gefunden. Alles Männer, zwischen 17 und 55 Jahre alt, und alle mit dem selben Ziel: Sie wollen nach Europa, ins reiche Europa. Gestrandet aber sind sie in Serbien, nahe der Stadt Subotica, nur ein paar Hundert Meter vom Zaun entfernt, mit dem Ungarn auf Geheiß von Ministerpräsident Viktor Orbán seine Grenze sichert. Nachts liegen Ahmad Ibra und die anderen bei Temperaturen von bis zu minus 20 Grad mit ein paar groben Wolldecken auf dem Boden. Es gibt keinen Strom, es gibt kein Wasser, und es gibt keine staatliche Hilfe. Das Einzige, was es gibt, ist ein Plan in der Endlosschleife: "Sobald der Schnee geschmolzen ist, machen wir uns wieder auf den Weg."
In einem verfallenden Gehöft nahe Subotica sind Ahmad Ibra (rechts) und weitere Pakistaner untergekommen. Es gibt keinen Strom, kein fließendes Wasser.
(Foto: Peter Münch)Flüchtlinge wie Ahmad Ibra und seine Weggefährten aus dem Ruinen-Camp sollte es eigentlich gar nicht mehr geben. Schließlich loben sich die Politiker von Brüssel über Wien bis nach Budapest ständig selbst dafür, dass die sogenannte Balkan-Route schon im Frühjahr 2016 geschlossen wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt waren in gut einem Jahr mehr als eine Million Menschen auf diesem Pfad nach Westen gezogen. Seither ist es ruhiger geworden. "Aber geschlossen ist die Balkan-Route ganz bestimmt nicht", sagt Radoš Djurović. "Vielleicht sind die Flüchtlinge nicht mehr so sichtbar wie früher. Aber es kommen immer noch Zehntausende auf diesem Weg."
Von der serbischen Hauptstadt Belgrad aus koordiniert Djurović mit seiner Organisation "Asylum Protection Center" (APC) die dringend notwendige Hilfe für die Vergessenen und Verdrängten auf der Balkan-Route. "Es herrscht eine ständige Bewegung", sagt er. Die Flüchtlinge kommen über Bulgarien oder Mazedonien ins Land. Von Serbien aus wollen sie weiterziehen durch Ungarn oder Kroatien. "Das ist sehr anstrengend, man braucht viel Kraft und Geld", erklärt er. "Aber mit den Schleppern klappt es immer noch oft schnell, in den Westen zu kommen." Eine Preisliste hat er auch zur Hand, erstellt nach den Angaben der Flüchtlinge: 3000 Euro kostet es demnach von Serbien nach Deutschland, 7000 Euro nach Frankreich, 12 000 nach Großbritannien.
In Serbien will keiner bleiben. "Das ist hier nur das Fegefeuer", meint Djurović. Doch wer von den Grenzschützern in Ungarn oder Kroatien aufgegriffen wird, der wird sofort wieder dorthin zurückgeschickt. Serbien wird so zum Sammelbecken und oft genug zur Sackgasse für die Flüchtlinge auf der Balkan-Route. Offiziell spricht die Regierung von 4000 Gestrandeten im Land, Djurović schätzt die Zahl derzeit auf 6000. Lange Zeit wurde das Problem ignoriert. Erst als vor einem Jahr 2000 Menschen, darunter viele Familien mit Kindern, in verlassenen Lagerhallen und in einem Park rund um den Belgrader Busbahnhof campierten und die Misere nicht mehr zu übersehen war, wurde gehandelt. 30 Kilometer von Belgrad entfernt entstand ein neues Flüchtlingslager für 500 Menschen, die anderen wurden auf bestehende Lager im Land verteilt. "Manche sind freiwillig dorthin gegangen, manche unter Druck", erklärt Djurović.