Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge:Als wären alle Deutschen auf der Flucht

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Das UN-Flüchtlingshilfswerk legt seinen Bericht zur weltweiten Lage vor: Trotz Pandemie ist die Zahl der Vertriebenen wieder gestiegen. Hoffnung? Nur ein "Schimmer".

Von Andrea Bachstein, München

82,4 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht. Fast so viele wie die gesamte Bevölkerung Deutschlands. Vertrieben über die Grenzen in Nachbarstaaten, auf andere Kontinente oder innerhalb ihren eigenen Länder. Das sind doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Den neuen, betrüblichen, aber erwartbaren Spitzenwert hat das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) mit seinem jüngsten Bericht "Global Trends" vorgelegt.

2020 ist das neunte Jahr, das einen Anstieg der Flüchtlingszahlen brachte, um vier Prozent. Und dies trotz der Pandemie, in der etwa 160 Länder ihre Grenzen zeitweise schlossen und nach Schätzung des UNHCR deshalb etwa 1,5 Millionen Menschen weniger Asyl beantragen konnten, als es normalerweise der Fall gewesen wäre. Noch sind nicht alle Auswirkungen der Corona-Seuche erfasst, aber ein Rückgang der Asylanträge von global rund 50 Prozent wurde sichtbar.

Europa spürt es nicht, dass es erneut mehr Flüchtlinge gibt, dort kamen weniger Menschen an, die Zuflucht suchen vor Kriegen, Konflikten, Verfolgung. Das UNHCR mahnt deshalb die EU, diese relativ entspannte Situation zu nutzen, "um ein verlässliches Konzept zur angemessenen Verteilung der ankommenden Asylbewerber zu erarbeiten. Dann ließe sich in Europa ein System einer fairen Verantwortungsteilung verankern", sagte die deutsche UNHCR-Vertreterin Katharina Lumpp.

Auf der anderen Seite steht eine der Konstanten des globalen Geschehens: 86 Prozent der Flüchtlinge, praktisch neun von zehn, finden Aufnahme in Nachbarstaaten, die zum ärmeren Teil der Welt gehören. 27 Prozent derer, die Asyl erhielten, bekamen es von den am wenigsten entwickelten Ländern. Nur ungefähr fünf Prozent aller Geflüchteten gelangen nach Europa, was gewisse Politiker gerne unterschlagen, wenn sie Schreckensszenarien von bedrohlichen Flüchtlingswellen malen.

42 Prozent aller Flüchtlinge sind unter 18 Jahre alt

Dass unter den per se verletzlichen Geflüchteten die Verletzlichsten Kinder und Jugendliche sind, auch daran erinnern die "Global Trends". Und sie sind sehr viele: 42 Prozent aller Flüchtlinge sind unter 18 Jahre alt. Fast eine Million, schätzt das UNHCR, wurden in den Jahren von 2018 bis 2020 durch die Flucht der Eltern schon als Flüchtlinge geboren.

Auch die Konflikte und Faktoren, die Menschen zwingen, ihre Heimat zu verlassen, sind seit Jahren weitgehend dieselben, eher kommen neue dazu, als dass alte verschwinden. So stammen aus nur fünf Ländern zwei Drittel der Fluchtbevölkerung des Planeten: Syrien führt diesen Negativrang an mit 6,7 Millionen; gefolgt von Venezuela, Afghanistan, Südsudan und Myanmar. Nirgendwo hat die Politik in diesen teils sehr lange andauernden Krisen Entspannung bewirkt. Anlass für Filippo Grandi, den UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, ein weiteres Mal zu appellieren: "Diejenigen, die die Geschicke der Welt lenken und Einfluss haben, müssen ihre Differenzen beiseitelegen, egoistische Ansätze in ihrer Politik aufgeben und sich stattdessen darauf konzentrieren, Konflikte zu vermeiden und zu lösen, und die Achtung der Menschenrechte garantieren."

UN-Generalsekretär António Guterres hatte im März vergangenen Jahres dringend aufgerufen, zumindest im Angesicht der Pandemie weltweit Waffenruhe zu halten. Was das UNHCR vorlegt, bestätigt mit allen Daten, dass sein Friedensruf völlig verhallte.

Bekannt ist auch die Rangliste der wichtigsten Aufnahmestaaten. Nach wie vor bringt die Türkei mit 3,7 Millionen Menschen weltweit die meisten Flüchtlinge unter, gefolgt von Kolumbien mit 1,7 Millionen, Pakistan und Uganda mit je 1,4 Millionen ausländischen Flüchtlingen. Sie liegen noch vor Deutschland mit 1,2 Millionen, zu denen etwa 243 000 Asylbewerber hinzukommen. Dabei sind die Erstanträge erneut weniger geworden, knapp 103 000.

Nur ein "Schimmer" Hoffnung

Die Bemühungen, jenen, bei denen keine Aussicht auf Heimkehr besteht, eine neue dauerhafte Heimat in einem Drittland zu verschaffen, waren im Verhältnis zu den gewaltigen Flüchtlingszahlen immer mäßig erfolgreich. Im Corona-Jahr brachen diese "Resettlements" aber regelrecht ein. Nur 34 400 Menschen konnten so neu starten, der tiefste Wert seit 20 Jahren - fast 108 000 waren es noch im Vorjahr. Fachleute halten dies für einen direkten Effekt der Pandemie.

Kriegsartige Konflikte, Extremwetter und wirtschaftliche Pandemiefolgen haben schon 2020 die Ernährungslage in einigen Ländern prekär gemacht, mehr Menschen sind von Hunger bedroht. Dass sich dies fortsetzt, erwartet das UNHCR auch für dieses Jahr. Es werde wohl besonders Fluchtschwerpunkte wie Syrien, Südsudan und die Zentralafrikanische Republik treffen. Und so erkennen die Autoren des UNHCR-Berichts auch nur einen "Schimmer" Hoffnung: Dass die USA bis 2022 als Drittland die Resettlements auf 125 000 verdoppeln wollen. Und Kolumbien den mehr als einer Million dorthin geflohenen Venezolanern Schutzstatus gewährt.

Europäischen Ländern, die Asylverfahren gerne auslagern würden, sie also jenseits ihrer Grenzen durchführen wollen, wie es sich kürzlich etwa Dänemarks Regierung vorgenommen hat, gibt UNHCR-Repräsentantin Lumpp mit auf den Weg, eine "Externalisierung von Asylverfahren und Schutzgewährung" widerspreche "Text und Geist der Genfer Flüchtlingskonvention". 70 Jahre alt wird die Konvention demnächst, und selbst in Europa muss ihre Einhaltung immer wieder eingefordert werden.

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