Florida vor der US-Wahl:Lebenslang für alle

North Carolina Residents Cast Ballots As Early Voting For U.S. Presidential Election Begins

Die Wahlen in den USA haben längst begonnen: Schlange vor einem Wahllokal in Durham in North Carolina, wo Wähler bereits jetzt ihre Stimme abgeben können.

(Foto: Rachel Jessen/Bloomberg)

Mit harten Auflagen versuchen die regierenden Republikaner, frühere Häftlinge am Wählen zu hindern. Sie wissen warum.

Von Alan Cassidy

Für Keith Ivey wäre es das erste Mal gewesen, mit 47 Jahren, endlich. Die erste Stimme für einen Präsidentschaftskandidaten. "Das erste Mal das Gefühl, ein vollwertiger Bürger zu sein", sagt er. Ivey war Anfang zwanzig, als er in Florida wegen organisierten Betrugs zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde.

Nach achteinhalb Jahren kam er wegen guter Führung frei. Seit seiner Entlassung führt er ein Geschäft für Gebrauchtwagen am Rand von Jacksonville. Er zahlt Steuern, hält sich an die Gesetze, aber wählen darf er nicht. Noch immer nicht.

Dabei hatte es gut ausgesehen für Keith Ivey und die 1,4 Millionen weiteren früheren Strafgefangenen, denen der Bundesstaat Florida das Wahlrecht auf Lebenszeit aberkannt hatte. Die meisten sind Schwarze und Latinos. Vor zwei Jahren entschieden die Bürger von Florida in einer Volksabstimmung, die Verfassung zu ändern und den meisten Ex-Häftlingen das Wahlrecht zurückzugeben.

Auch Keith Iveys Tochter stimmte dafür. Doch kurz darauf verabschiedete das republikanisch beherrschte Parlament des Bundesstaats ein Gesetz, das die Reform verwässerte. Um wählen zu können, mussten die Ex-Häftlinge zunächst alle Gerichtsgebühren und Geldstrafen abbezahlen.

Im Abstimmungskampf war davon nie die Rede gewesen. Keith Ivey war trotzdem nicht überrascht, als er davon hörte. "Nur sehr erschöpft", sagt er. Ivey sitzt mit Maske und im T-Shirt in seinem Autogeschäft, ein schlichter Bau an einer Durchgangsstraße; wenn er über sein verlorenes Wahlrecht redet, wirkt er resigniert. "Für diese Leute", sagt er und meint die Republikaner, "ist das ein lange geplanter Schachzug.

Wessen Stimme zählt?

Sie wissen, dass sie damit eine Menge Leute von der Wahl ausschließen können." Ivey hatte sich einer Klage von 16 weiteren Ex-Häftlingen gegen das Gesetz angeschlossen. Ein Berufungsgericht wies die Klage im September ab.

Es ist nicht nur so, dass Keith Ivey womöglich Mühe hätte, die teils sehr hohen Gebühren zu begleichen, um tatsächlich wählen zu dürfen. "Ich weiß nicht einmal, was ich überhaupt schuldig bin", sagt er. Der Bundesstaat Florida führt keine zentrale Datenbank darüber. Iveys eigene Recherchen führten ins Leere, und auch die Aktivisten, die für die Organisation des Milliardärs Michael Bloomberg Wähler registrieren, konnten ihm nicht helfen.

Und so bleibt Ivey am Wahltag zu Hause. Wie Keith Ivey geht es vielen anderen früheren Strafgefangenen. Sie geben auf. Bürgerrechtler schätzen, dass nur einige Tausend frühere Strafgefangene bei der anstehenden Wahl abstimmen werden. Aus Sicht der Republikaner ein Erfolg.

Die Frage, ob Donald Trump oder Joe Biden die Wahl gewinnt, lässt sich mit einer Gegenfrage beantworten: Wessen Stimme zählt? Wer kann problemlos an der Wahl teilnehmen, und wem werden dabei Steine in den Weg gelegt?

Was den früheren Strafgefangenen in Florida widerfährt, ist Teil eines größeren Kampfes, den die Republikaner in vielen Bundesstaaten für den "Schutz" des Wahlrechts führen, wie sie es nennen - oder für dessen Einschränkung, wie Kritiker sagen. Dieser Kampf geht besonders zulasten der Schwarzen, Latinos und anderen Minderheiten - Menschen, die überwiegend die Demokraten wählen.

Florida vor der US-Wahl: „Sehr erschöpft“: Keith Ivey hat gegen das Wahlgesetz in Florida geklagt.

„Sehr erschöpft“: Keith Ivey hat gegen das Wahlgesetz in Florida geklagt.

(Foto: Alan Cassidy)

Wie das in der Praxis aussieht, lässt sich zum Beispiel in Texas beobachten. Dort hatte der Landkreis Harris County, in dem die Metropole Houston liegt, zwölf "drop boxes" geplant - Wahllokale, in denen Wahlzettel per Brief abgegeben werden können.

Der republikanische Gouverneur Greg Abbott entschied jedoch, dass es pro Landkreis nur ein einziges solches Wahllokal geben dürfe - egal, ob dieser Landkreis 4,7 Millionen Einwohner hat wie Harris County oder nur 149 wie der kleinste County. Für die Wähler in und rund um Houston ist die Stimmabgabe per Brief damit deutlich komplizierter geworden.

Bis vor Kurzem hätte der Gouverneur einen solchen Schritt zuerst vom US-Justizministerium in Washington genehmigen lassen müssen. So verlangte es der Voting Rights Act von 1965. Der Supreme Court kippte jedoch 2013 eine entsprechende Schutzklausel aus dem Bürgerrechtsgesetz. Seit diesem Urteil wurden nach der Studie einer Bürgerrechtsgruppe mehr als 1200 Wahllokale im Süden geschlossen, oftmals in Gegenden, in denen viele schwarze Wähler leben.

In Texas begründete Abbott seinen Schritt mit der angeblichen Gefahr von Wahlbetrug, den es zu verhindern gelte. So argumentieren die Republikaner meistens. In keiner Studie wurde jedoch irgendwo in den USA systematischer Wahlbetrug nachgewiesen. Trotzdem wird mit diesem Argument inzwischen vielerorts ein amtlicher Fotoausweis bei der Stimmabgabe verlangt. In Europa wäre das nicht erwähnenswert, doch in den USA gibt es keinen Personalausweis.

21 Millionen haben keinen Pass und keinen Führerschein - doch einen Ausweis bräuchten sie fürs Wählen

Nach einer Studie von 2012 hatten 21 Millionen Amerikaner weder einen Reisepass noch einen Führerschein. Ein Viertel von ihnen waren Schwarze. Um einen Ausweis zu besorgen und wählen zu können, müssen sie Geld aufbringen, das sie oft nicht haben.

Was früher die poll taxes waren, die Wahlsteuern, die im Süden erhoben wurden, seien heute die Fotoausweise, sagt die Rechtsprofessorin Gilda Daniels, die als Spezialistin für Bürgerrechte im US-Justizministerium gearbeitet hat: "Es geht darum, Minderheiten, Arme und Ältere von der Wahl abzuhalten."

Und dann ist da auch noch Donald Trump. Der Präsident behauptet seit Jahren, dass Millionen Menschen illegal wählen gingen. Eine faktische Grundlage für diese Behauptung gibt es nicht. Inzwischen ruft er seine Anhänger auf, in den Wahllokalen am 3. November nach dem Rechten zu sehen, vorgeblich, um Betrug zu verhindern.

Auch dahinter steckt eine dunkle Geschichte. In New Jersey ließen die Republikaner 1981 Männer mit Armbinden patrouillieren, um Wähler in schwarzen Gegenden einzuschüchtern. Ein Gericht untersagte der Partei diese Taktik - doch das Dekret lief vor zwei Jahren aus. Mit welchen Folgen? Das wird der kommende Wahltag zeigen.

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