Politik in Deutschland:Wer das Land regiert

Der Rechtswissenschaftler Florian Meinel geht in einer fundierten Analyse dem Doppelcharakter des Parlaments auf den Grund. Und sucht den Ort mit der höchsten Machtbefugnis im Grundgesetz.

Rezension von Rudolf Walther

Parlamentarismus und Demokratie sind in eine Krise geraten, insbesondere durch den Erfolg von populistischen Bewegungen und Parteien. Wie dieser Krise gegenzusteuern ist, ist höchst umstritten. Mit der Beschwörung der "Werte" des Grundgesetzes, was der Verfassungsrechtler Florian Meinel als "sakrale Überhöhung" der Verfassung deutet, ist so wenig gewonnen wie mit der trügerischen Hoffnung, ausgerechnet der rüpelhaft-provokative Auftritt von AfD-Abgeordneten belebe den Parlamentarismus.

Florian Meinel hält sich nicht an oberflächliche Hausrezepte des politischen Handgemenges und setzt nicht auf Spekulationen, sondern geht ins Grundsätzliche, indem er nach der normativen Basis des parlamentarischen Regierungssystems in der Verfassung fragt. Diese ist weder stark noch klar, sondern schwach und widersprüchlich - entgegen der Schulbuchweisheit, das System beruhe auf der Trennung von Legislative und Exekutive. Nicht die Trennung ist der entscheidende Punkt, sondern die rechtliche Verknüpfung von exekutiver mit parlamentarische Macht und zugleich die Kontrolle des Parlaments durch die Exekutive.

Wahlkampf Berlin

In guten Händen der Kanzlerin? Wahlwerbung mit der Merkel-Raute im Bundestagswahlkampf 2013.

(Foto: Bernd Von Jutrczenka/dpa)

Eine Theorie des parlamentarischen Regierungssystems existiert nicht, wenn man von Ansätzen dafür in Max Webers Vortrag "Politik als Beruf" (1919) absieht. Diese Theorie beruht auf der ebenso fragwürdigen wie staatsfixierten und bürgerfeindlichen Unterscheidung von "Verantwortung" und "Gesinnung" und trägt die Spuren ihrer Entstehung am Ende des Ersten Weltkriegs zu deutlich, um sie auf die heutigen politischen und verfassungsrechtlichen Verhältnisse übertragen zu können.

Wenn man nach dem Ort der höchsten Machtbefugnis im Grundgesetz sucht, findet man sie im Zwischenraum zwischen parlamentarischer Mehrheit und der Regierung. Dieser Zwischenort beziehungsweise Unort wird deutlich etwa im Widerspruch, dass das Parlament den Kanzler oder die Kanzlerin in geheimer Abstimmung wählt, während Vertrauensabstimmungen über die Kanzlerschaft in namentlicher Abstimmung stattfinden müssen. Meinel macht für diese Widersprüche in der Verfassung den historisch bedingten Dualismus, also die föderale Machtverteilung zwischen Bundesregierung, Parlament und Bundesrat/Landesregierungen verantwortlich, die "deutsche Form der Gewaltenteilung". Konservative Wissenschaftler sehen darin eine "Pathologie" (Wilhelm Hennis).

Im Vergleich der "Gewaltfusion" mit dem "Handlungsverbund" (Meinel) zwischen Regierung und Parlament in Großbritannien hat die föderale Machtaufteilung jedoch auch Vorzüge, wenn man die aktuelle Handlungsunfähigkeit Londons beim Brexit betrachtet.

Die überzeugende Studie von Meinel belegt, wie sehr die Vorstellung vom englischen Regierungssystem als einem "government by discussion" zum Mythos geworden ist, denn die direkte Konfrontation von Regierung und Opposition, wie sie im Parlament von Westminster ebenso üblich ist wie im Bundestag selten, ist zum schülerparlamentsartigen, inhaltsfreien Ritual verkommen, während das deutsche Arbeitsparlament mit seinen Ausschüssen seine Leistungsfähigkeit unspektakulär und effizient unter Beweis stellt.

Meinel, Florian: Vertrauensfrage

Florian Meinel: Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus. Verlag C.H. Beck, München 2019, 238 Seiten, 16,95 Euro.

(Foto: C.H. Beck)

Eine Schlüsselrolle hat das Wahlrecht. Es begünstigt schwierige Konstellationen

Freilich beleuchtet Meinel auch die Schwächen in Deutschland schonungslos. Bei Licht besehen installiert das Grundgesetz keine vom Parlament gesteuerte Regierung, sondern legt nur Funktionsregeln der Regierung fest, wobei das Parlament nur einzelne Minister zur Verantwortung ziehen und der ganzen Regierung das Vertrauen nur indirekt durch die Wahl eines anderen Kanzlers entziehen kann. Zur Schwächung des Bundestags trägt auch bei, dass außer dem Bundesrat auch die Ministerialbürokratie quasi mitregiert, weil sie nicht nur die meisten Gesetzesvorlagen formuliert, sondern diese auch in den Ausschüssen mitberaten darf.

Schließlich bestimmt nach der Verfassung nicht das Parlament, sondern der Kanzler beziehungsweise die Kanzlerin die "Richtlinien der Politik", womit sich in der BRD ein System der "Kanzlerdemokratie" etabliert hat. Schließlich verhindert die Autonomie der Minister, der "Ressortpatriotismus und -partikularismus", die Einbindung der gesamten Regierung ins politische Handgemenge mit dem Parlament. Für die Vermittlung von Ressortegoismen und Parlament ist nicht dieses zuständig, sondern das in der Verfassung gar nicht vorgesehene Kanzleramt, das von 100 Mitarbeitern auf heute 600 angewachsen ist - nicht mitgezählt das ausgegliederte, immer mächtiger werdende Presse- und Informationsamt. Völlig vom Parlament abgekoppelt agiert noch ein Geheimgremium, der Bundessicherheitsrat.

Zu den schwierigsten Problemen der Demokratie gehört das der Repräsentation des Volkes, für die das Wahlrecht eine Schlüsselrolle einnimmt. Für die Ausgestaltung des deutschen Mischwahlrechts mit einer Stimme für den Wahlkreiskandidaten und einer Listenstimme für die proportionale Sitzverteilung waren Parteien und Parlament verantwortlich, vor allem aber das Bundesverfassungsgericht mit seiner Rechtsprechung zu Ausgleich- und Überhangmandaten. Mit dem Zerfall der "Volksparteien" steigt der Druck des Regierungssystems zu großen Koalitionen, in denen der Wettbewerb zwischen den Regierungsparteien zu Gunsten der Regierung und auf Kosten des Parlaments verringert und die Rolle der Opposition marginalisiert wird.

Ob ein auf der Basis eines reinen Mehrheitswahlrecht gewähltes Parlament mit diesen Problemen besser fertig würde, bezweifelt Meinel zu Recht. Im Widerspruch dazu steht, dass er die Vorteile der "klassischen Wettbewerbssituation" im Westminster-Parlamentarismus lobt, obwohl der sich in den aktuellen Brexit-Debatten als rhetorische Show von rechten, konservativen und linken Schattenboxern erweist, die sich noch in der Traumwelt des 18. und 19. Jahrhunderts wähnen und "Rule Britannia!" grölen.

Meinels Buch ist eine lehrreiche Einführung in den verfassungsrechtlichen und politischen Doppelcharakter des Parlaments als Kontrolleur der Regierung und zugleich als deren Basis im demokratischen System.

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