Süddeutsche Zeitung

Fleury-Mérogis in Frankreich:Gefangen im größten Knast Europas

Lesezeit: 5 min

Von Nadia Pantel, Fleury-Mérogis

Das Gefängnis von Fleury-Mérogis ist die größte Haftanstalt Europas. Für 2800 Häftlinge gebaut sitzen oft 4000 Männer ein. Für die Gefangenen muslimischen Glaubens gibt es genau einen Seelsorger ihrer Religion. So geht es schon mal los an dem Ort, wo die Attentäter von Paris sich kennenlernten.

Aus der Luft betrachtet wirkt der Bau wie ein kantiges Herz. Wer davor steht, sieht nur hunderte Meter Waschbeton und einen Wachturm mit burgartigen Zinnen. In Fleury-Mérogis trafen sich 2005 Chérif Kouachi und Amédy Coulibaly. Und dort trafen sie auf den Mann, der ihnen an Terrorerfahrung weit voraus war und der ihr Mentor werden sollte: Djemal Beghal. Der Geheimdienst hält ihn für eine wichtigen Al-Qaida-Verbindungsmann mit der Aufgabe, neue Mitglieder anzuwerben. Auch im Knast.

Die Inhaftierten drehen im Knast heimlich ein Video

Kouachi verlässt schon 2006 das Gefängnis wieder, Coulibaly bleibt. 2008 schmuggelt er gemeinsam mit vier anderen Männern Kameras in die Haftanstalt. Zweieinhalb Stunden heimlich gedrehtes Filmmaterial geben die Inhaftierten an die Zeitung Le Monde. Die Amateurfilmer wollen zeigen, "dass es wirklich Scheiße ist da drin und das man dort verrückt wird". Die Gefängnisverwaltung zeige immer nur " schöne" Bilder.

Das Video wird im Dezember 2008 das erste Mal auf der Internetseite von Le Monde gezeigt.

Es zeigt zugemüllte Außenanlagen, in denen ein schlaffer Fußball neben einer alten Packung Kekse verrottet. Es zeigt Waschräume, deren Wände vor lauter Schimmel grün sind. Im Innenhof des Gefängnisses stehen die Häftlinge in kleinen Grüppchen zusammen. Kapuzenpulli, graue Jogginghosen. Einer trägt eine weiße Adidas-Ballonseidehose mit schwarzen Streifen. Kochen ist im Gefängnis verboten.

In einer Szene stellt ein Mann vier Cola-Dosen zusammen und macht darunter in seiner Zelle ein kleines Feuer. Auf die Cola-Dosen legt er eine Pfanne. "Das ist hier alles hausgemacht. Das wird gut." Im Hintergrund gibt Hip Hop den Rhythmus zum Umrühren vor.

Medien und Politik diskutierten über die Zustände

Coulibaly ist in dem Video nicht zu erkennen, Le Monde hat die Aufnahmen damals anonymisiert. Doch Coulibaly gehört zu den Männern, die filmten. Das Video machte das Gefängnis von Fleury-Mérogis schon damals berühmt. Medien und Politik diskutierten über die überfüllten Zellen, über den schlechten Zustand des Gebäudes. Im Januar 2015 ist das Gefängnis erneut in der Diskussion: als der Ort, an dem die Terroranschläge von Paris ihren Anfang nahmen. Ein Besuch.

Marie kennt Amédy Coulibaly nicht. Aber die Frau, die ihren vollen Namen nicht nennen will, sieht sein Gesicht seit ein paar Tagen jeden Abend, bevor sie einschläft. "Ich drehe den Kopf auf dem Kissen, und dann sehe ich ihn" - Marie rührt ein wenig in dem kleinen Kaffeeplastikbecher. 50 Cent kostet der hier in dem Glaspavillon, in dem Freunde und Angehörige der Inhaftierten von "Maison d'arrêt de Fleury-Mérogis" warten. Draußen ist Nieselregen, drinnen stehen sie dicht gedrängt. 35 Frauen, vier Männer, drei Säuglinge, die in Plastiktrageschalen mitgeschleppt werden, zwei Kleinkinder. Sie warten auf die Besucherstunde im Gefängnis.

Die Angehörigen der Inhaftierten haben Angst

Der Neffe von Marie ist seit Ende November hier. 23 ist er, so alt wie Kouachi damals . "Ein Freund von ihm hatte Drogen im Auto, mein Neffe saß nur auf dem Beifahrersitz. Er hat trotzdem vier Monate gekriegt", sagt Marie. Seit Coulibaly und Chérif und Saïd Kouachi vergangene Woche 17 Menschen umgebracht haben, hat Marie Angst. Angst davor, wen ihr Neffe im Gefängnis alles kennenlernen könnte. Denn Fleury-Mérogis ist genau der Ort, an dem Chérif Kouachi und Amédy Coulibaly einander mutmaßlich das erste Mal begegneten. Und an dem sie Djamel Beghal kennenlernten, der Mann, der seit 2001 eine Gruppe von Islamisten im Gefängnis aufbaute.

Drei Mal die Woche kommt Marie aus Saint Denis nach Fleury-Mérogis. Beide Orte gehören zum Pariser Banlieu. Es dauert drei Stunden, bis man mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Saint Denis nach Fleury gereist ist. Marie fährt trotzdem hin. Heute hat sie eine große Tüte mit Jogginghose und Daunenjacke dabei. "Mein Neffe macht im Gefängnis viel Sport und geht im Hof spazieren". Aber wichtiger als die Daunenjacke sind die Gespräche.

Am wichtigsten sei doch, sagt Marie, dass man miteinander rede. Und wenn sie an Coulibaly denkt, dann ist das ihre wichtigste Frage: Wer hat eigentlich mit dem geredet? "Die Brüder Kouachi waren Waisen, das ist eine ganz andere Geschichte. Aber Coulibaly, der hatte doch Familie. Der hatte einen Job. Konnte da niemand Kontakt mit ihm aufnehmen, bevor er durchgedreht ist?"

"Natürlich können die alle bei mir beten"

Marie war 13 Jahre alt, als sie mit ihrer Familie von Togo nach Frankreich gezogen ist. Heute ist sie 60 und Beamtin im Ruhestand. Dass Menschen einander wegen ihrer Religion verachten, das habe sie erst in Frankreich kennengelernt, sagt Marie. Ihre drei Kinder sind in Paris aufgewachsen. Sie ist Katholikin, die Freunde ihrer Kinder sind meist Muslime. "Natürlich können die alle bei mir beten. Wenn einer dafür seine Ruhe braucht, schicke ich den einfach ins Nebenzimmer." Es spräche doch nichts dagegen, dass Christen und Muslime sich gut verstehen sagt Marie: "Ich frage mich seit Tagen, wie jemand wie Coulibaly so verbittert werden konnte."

Die Probleme in Saint Denis sind ähnlich wie die in Grigny, wo Coulibaly aufwuchs und wo Marie nun ihren Neffen im Gefängnis besucht. Es gibt an diesen Orten wenig Grund zu hoffen, dass die Tage sich einmal ändern könnten. Dass das Geld auf dem Konto mehr werden könnte. Dass die eigene Wohnung mal im Zentrum und nicht in Kilometern entfernten Trabantenstädten liegen könnte. Dennoch, sagt Marie, könne es einem doch gut gehen. Ihr Neffe ist eigentlich Student. Seine vier Monate im Gefängnis unterbrechen sein BWL-Studium. "Er selber ist ein guter Mensch, ich bin mir nur nicht so sicher, wie klug er seine Freunde aussucht."

Marie wartet mehr als 40 Minuten

Maries kleiner Kaffeebecher ist längst leer. Sie stellt ihn auf den Boden, dann schaut sie auf die Uhr. "Schon zehn Minuten zu spät." Sie macht sich jedes Mal Sorgen, dass etwas Schlimmes passiert ist, wenn sie nicht rechtzeitig für das halbstündige Gespräch mit ihrem Neffen ins Gefängnis gelassen wird. 40 Minuten wartet sie jetzt schon. Neben Marie steht eine Frau mit roten Haaren, schwarzen Riemchensandalen, weißem Mantel und genug Falten im Gesicht, um 50 Jahre als zu sein.

Sie hat gehört, dass Marie von Coulibaly spricht. "Glaubt ihr, das ist jetzt ein neues Hobby, dieser Terror?", fragt sie. Sie habe ja schon 2000 gedacht, dass die Welt unterginge. Und jetzt das. "Aber vielleicht kommt ja auch noch ein großer Krieg, an dem wir alle sterben." Sie wackelt ein wenig auf ihren hohen Absätzen und lacht umso lauter, als sie es bemerkt.

Dann öffnet sich endlich die Tür zum Besuchertrakt und ein Wachmann in schusssicherer Weste winkt Marie und die anderen zu den Schließfächern, in denen sie ihre Taschen und Mäntel verstauen. "Noch vier Wochen", sagt Marie zum Abschied. Dann ist ihr Neffe wieder bei ihr. Sie hofft, dass er derselbe sein wird wie vor dem Gefängnis.

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