Fleischindustrie:Unerträgliche Zustände

Schlachtbetrieb

Die Republik hält sich Heerscharen von Polen, Rumänen und Bulgaren, die den Bundesbürgern alltäglich ihr Billigfleisch servieren. (Symbolbild)

(Foto: Ingo Wagner/dpa)

Das Schicksal der Fleischarbeiter wie der Flüchtlinge beweist: Deutschland ist, wenn es um das Recht auf Leben und auf Gesundheit geht, eine Zwei-Klassen-Gesellschaft.

Kommentar von Christian Wernicke

Corona offenbart Wunden, die seit Langem schwären. Nur macht es die Seuche jetzt unmöglich, länger hinwegzusehen über die unmenschlichen Zustände, wie sie seit Jahr und Tag etwa für Hunderttausende Werkvertragsarbeiter in deutschen Fleisch- und Wurstfabriken gelten. Diese Menschen leben, wie derzeit auch billige Spargelstecher und Erdbeerpflücker aus Osteuropa, oft in engen, miserablen Sammelunterkünften. Man könnte auch sagen: in amtlich geduldeten Corona-Schleudern.

Eine Infektionswelle in einer staatlichen Unterkunft für Geflüchtete in Nordrhein-Westfalen legt nun den nächsten Skandal offen: In einer Wohnanlage in Sankt Augustin haben sich 130 von 320 Asylsuchenden infiziert. Allein an Rhein und Ruhr wohnen knapp 12 000 Menschen in ähnlichen Behausungen. Zwar haben die Behörden seit Beginn des Lockdowns versucht, hier und da ein paar zusätzliche Gemäuer oder auch eine Jugendherberge anzumieten, aber der Fall Sankt Augustin beweist: Das genügt nicht. Noch immer werden in zentralen Landesunterkünften Nordrhein-Westfalens Menschen in Zimmer mit vier oder acht Betten gestopft. In Sankt Augustin wussten die Verantwortlichen nicht einmal zu sagen, wie viele Geflüchtete sich eine Toilette oder eine Dusche teilen müssen - oder ob ihnen eine Mindestfläche zusteht.

Beides, das Schicksal der Fleischmalocher wie der Flüchtlinge, beweist: Deutschland ist, wenn es um das Recht auf Leben und auf Gesundheit geht, eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Die Republik hält sich Heerscharen von Polen, Rumänen und Bulgaren, die den Bundesbürgern alltäglich ihr Billigfleisch servieren. Noch empörender als diese Ausbeutung aber ist, wie die Behörden ihre Pflicht zur Vor- und Fürsorge für Geflüchtete verleugnen: Exakt jener Staat, der Verordnungen für Mindestabstände und Mundschutz verfügt, duldet in seinen Unterkünften Zustände, die dem Virus täglich neue Opfer zuführen. Während draußen auf der Straße Kontaktverbote für alle gelten, wird drinnen im staatlichen Lager auch mal gepfercht.

Wohlgemerkt, dieses Unrecht im Schatten der Gesellschaft kann auf alle Menschen zurückschlagen. Auch auf die, die bisher satt sind und sich sicher fühlen. Fleischer wie Flüchtlinge aus Sammelunterkünften werden, sobald sie sich infiziert haben, als Überträger zum Risiko für die gesamte Gesellschaft. Corona schlägt dann zurück, ohne Blick auf Klasse oder Herkunft. Genau deshalb - zum Schutz der Allgemeinheit - verfügen inzwischen auch Gerichte in ersten Eil-Entscheiden, einzelne Flüchtlinge hätten das Recht auf eine bessere, gesündere Bleibe.

Immerhin, es gibt Bemühungen, die Zustände wenigstens etwas zu korrigieren. In NRW will das zuständige Ministerium nun den Problemstau in den eigenen Lagern verringern, indem es wieder Asylsuchende an Städte und Gemeinden weiterschickt. Seit März hatte ein Zuweisungsstopp den Gefahrendruck in den zentralen Unterkünften unnötig erhöht. Und endlich blenden Düsseldorf und Berlin nicht länger das Elend der Werkvertragsarbeiter aus: Karl-Josef Laumann (CDU) und Hubertus Heil (SPD), die Arbeitsminister in Land und Bund, wollen schärfere Gesetze, um künftig die Elendsquartiere der Fleischer besser kontrollieren zu können. Es wäre ein Segen des Virus: Die Reform würde nach Corona fortgelten.

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Schlachtbetrieb

Schlachtbetrieb in Niedersachsen.

(Foto: Ingo Wagner/dpa)

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