Süddeutsche Zeitung

Fleischindustrie:"Enormes Pandemie-Risiko"

Nach dem Corona-Ausbruch beim Fleischverarbeiter Tönnies schließt NRW-Ministerpräsident Laschet einen regionalen Lockdown nicht aus. Arbeiter sollen trotz Quarantäne in ihre Heimat abgereist sein

Von ulrike heidenreich, München/Gütersloh

Nach dem massiven Corona-Ausbruch beim Fleischverarbeiter Tönnies schließt Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) einen Lockdown für die Region Gütersloh nicht aus. Es gebe zwar "ein enormes Pandemie-Risiko", noch aber sei das Virusgeschehen lokalisierbar. "Wir haben explodierende Zahlen, die eng mit der Fleischindustrie verbunden sind", sagte er. Die Zahl der Infizierten in der Tönnies-Fabrik am Standort Rheda-Wiedenbrück war am Sonntag auf 1331 gestiegen. Währenddessen wächst die Empörung über die undurchschaubaren und prekären Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie.

Der Sitzung des Krisenstabes mit Laschet in Gütersloh war ein turbulentes Wochenende mit einer nächtlichen Durchsuchung der Tönnies-Zentrale vorausgegangen. Anlass dafür war die unvollständige Adressliste, die die Firma herausgegeben hatte. 6500 Menschen arbeiten für Tönnies, die Hälfte von ihnen über Subunternehmen. In 1300 verschiedenen Liegenschaften seien die Arbeiter untergebracht, was die Überwachung der Quarantäne-Auflagen extrem schwierig mache, so Laschet. "Das ist schon ein bisschen so was wie ein Flohzirkus", sagte der Landrat des Kreises Gütersloh, Sven-Georg Adenauer.

Drei Hundertschaften Polizisten und die Bundeswehr sind im Einsatz, ebenso 32 mobile Teams mit Dolmetschern, um die Arbeiter zu beraten. Die meisten Beschäftigten kommen aus Rumänien, Polen und Bulgarien. "Wir müssen uns in diese Menschen hineinversetzen. Sie leben unter schwierigsten Bedingungen, unterstützen ihre Familien in der Heimat und verstehen nun das Geschehen nicht", so Laschet. Unruhe lösten Hinweise an den Kreis Gütersloh aus, wonach Beschäftigte aus diesen Ländern noch vor Verhängung der Quarantäne abgereist seien. "Wir haben vermehrte Mobilität wahrgenommen", sagte eine Kreissprecherin.

6139 Tests waren bei den Tönnies-Arbeitern durchgeführt worden. 5899 Befunde lagen am Sonntag vor. Bei 4568 Beschäftigten konnte das Virus nicht nachgewiesen werden. In den vier Krankenhäusern im Landkreis werden derzeit 21 Covid-19-Patienten stationär behandelt. Davon liegen sechs Personen auf der Intensivstation. Fünf der sechs arbeiten bei Tönnies.

Der sichtlich erboste NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) drohte nach der Sitzung einen schärferen Kurs gegen die Fleischindustrie an: "Meine Meinungsbildung ist abgeschlossen. Mit der Fleischindustrie kann es keine freiwilligen Vereinbarungen geben, sondern nur klare gesetzliche Vorgaben." Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sprach sich für den Boykott von Produkten des Fleischkonzerns aus. "Es ist an der Zeit, dass die großen Supermarktketten sich nicht länger mitschuldig machen", sagte er der BamS.

Der Ausbruch bei Tönnies hat laut Robert-Koch-Institut auch Anteil am weiteren Anstieg des Reproduktionsfaktors. Er zeigt an, wie viele Menschen jeder Infizierte im Durchschnitt ansteckt. Nachdem der Faktor bereits am Samstag mit 1,79 über der kritischen Marke lag, ist er erneut sprunghaft angestiegen und wird nun schon mit 2,88 beziffert.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4942744
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 22.06.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.