Es war kurz vor der Bundestagswahl 1998, vor der Wahl also, die, wie damals allseits erwartet, für die CDU und Helmut Kohl verloren ging; die SPD gewann, Gerhard Schröder wurde Kanzler. Damals wurde Heiner Geißler in vertraulicher Runde etwas Spannendes gefragt: ob denn er, der alte Fuchs der CDU, wenn es den tiefen Bruch zwischen ihm und Kohl nicht gäbe, ein Rezept hätte, die Wahl und damit die Regierung für die Union noch einmal zu retten - und zwar ohne den Langzeitkanzler Kohl in letzter Minute durch Wolfgang Schäuble zu ersetzen.
Geißler überlegte lange und meinte dann, das ginge vielleicht so: Man müsse einen Streik der Müllarbeiter, wie es ihn damals gerade gab, eskalieren lassen, wochenlang. Dann, wenn sich der Müll in den deutschen Straßen türme und es überall zum Himmel stinke, müsse die Kohl-Regierung die Bundeswehr zum Saubermachen einsetzen. Die Wähler wären dann, meinte er, erleichtert und begeistert - und hätten wieder Respekt vor der Regierung Kohl. Ob er das ernst meine, wurde er gefragt. Natürlich nicht, antwortete er, aber er sei ja um ein Gedankenspiel gebeten worden.
Kaltblütiger Verhandler
Der Jurist Wolfgang Schäuble aus Baden ist mit seinen bald 73 Jahren um zwölfeinhalb Jahre jünger als der Jurist Geißler aus Württemberg. Wäre "gerissener Fuchs" ein Spitzenamt in der CDU - Schäuble wäre, bei aller Unterschiedlichkeit, Geißlers Nachfolger. Die Kaltblütigkeit, mit der Schäuble jüngst die Verhandlungen der Euro-Gruppe mit Griechenland durchgezogen hat, war einst ein Kennzeichen der Taktiken und der Strategien von Geißler, der den politischen Gegner sekkieren konnte bis aufs Blut.
Schäuble hat soeben, auf europäischer Ebene, die Spieltheorie Geißlers aus dem Jahr 1998, die Müll-Strategie, tatsächlich und tatkräftig praktiziert: Er hat die Situation bei den Verhandlungen nicht nur kaltblütig, sondern eiskalt eskalieren lassen - indem er den Griechen mit dem Grexit auf Zeit drohte, sodass Tsipras und den Seinen das Unheil bis zum Halse stand.
Mit dieser Drohung hat Schäuble erzwungen, dass die Griechen noch den kleinlichsten neoliberalen Unsinn (etwa die Öffnung ihrer Geschäfte am Sonntag) akzeptierten. Und diese Drohung lässt er weiter über den Griechen schweben. Der Zweck, das war und ist das Motto dieser Schäuble-Aktion, heiligt die Mittel. Der Zweck besteht darin, die Euro-Zone zu stabilisieren, indem man ein Exempel an Griechenland statuiert und zugleich all den Ländern, Italien etwa, die sich nicht an die geltenden Regeln halten wollen, eine Lektion erteilt.
"Wenn Sie wirklich deprimiert werden wollen, was Europas Zukunft angeht, lesen Sie den Namensartikel von Wolfgang Schäuble in der New York Times."
Der Wirtschaftsnobelpreisträger in der "New York Times" vom 17. April 2015
Schäuble will ein disziplinierteres Europa
Diese Operation ist gelungen. Ist der Patient Europa jetzt zerteilt, zerrissen, tot? Nicht wenige Kritiker sehen es so. In gewisser Weise will Schäuble es auch so: Er will ein anderes, ein effektiveres, ein disziplinierteres Europa: Seit Längerem plädiert er für einen EU-Haushaltskommissar, der die nationalen Haushalte streng kontrollieren soll. Das wäre weniger Demokratie in Europa, das brächte aber mehr Disziplin in der EU. Wäre das eine Art "Demokratur"?
Das ist ein Vorwurf, der Schäuble schon gemacht wurde, als er in den Neunzigerjahren seine Fraktion mit harter Hand führte. Schäuble will ein diszipliniertes Europa, ein Europa, das sich an Regeln hält, das die Vorgaben aus Brüssel achtet. Die große Krise ist für ihn die große Chance, dem Ziel näherzukommen. "Der Entwicklungsmodus für Großprojekte sind Krisen", sagt Karl Lamers, Schäubles alter außenpolitischer Weggefährte, der SZ. Die beiden haben einst das Schäuble-Lamers-Papier geschrieben, ein Plädoyer für ein Kerneuropa, das die Integration vorantreibt - und um das sich die anderen EU-Staaten eher lose gruppieren.
In den Umfragewerten so hoch wie noch nie
Schäubles Disziplinarmaßnahmen gegen Griechenland waren erfolgreich, jedenfalls im innenpolitischen Sinn; also erfolgreich aus Sicht der CDU/CSU, in der nun respektvoll von der unergründlichen Intellektualität Schäubles geraunt und seine Härte bewundert wird. Erfolgreich auch aus Sicht einer Mehrheit der Deutschen, die sich von dem "Werft-sie-raus-Populismus" von Bild, Spiegel und Co. hat beeindrucken lassen und die in Schäuble nun einen Bruder in diesem Geiste zu finden meint: In den Umfragewerten liegt Schäuble heute so hoch wie noch nie, er liegt noch vor der Kanzlerin Merkel.
Dass ihn das ungeheuer freut, wird ein reformierter evangelischer Christenmensch wie Schäuble, der weiß, dass Eitelkeit nicht gottgefällig ist, nicht zugeben. Aber für einen, der in seinem Leben so viel ertragen musste, ist diese Zustimmung Balsam auf viele Wunden. Und was ist mit dem Zorn, der ihm aus ganz Südeuropa entgegenschlägt? Tut das dem überzeugten Europäer Schäuble nicht weh? Er glaubt wohl, der Zorn sei der Preis, den er für ein Europa nach seinem Bilde entrichten muss. Sein Europa: Die Kritiker sagen, er wolle Europa so haben, dass es deutschen Zwecken am besten diene, anhaltenden deutschen Exportüberschuss inklusive.