Dass dieser Tag der Deutschen Einheit nicht allein Anlass zum Feiern gibt, hat Olaf Scholz (SPD) schon einen Tag zuvor klargemacht, beim „Kanzlergespräch“ in Schwerin. In diesem Format stellt Deutschlands Regierungschef sich den Fragen von Bürgerinnen und Bürgern, die oft spezifisch, sehr nah am Leben sind: Krankenhausreform, Anerkennung ausländischer Abschlüsse, EU-Flottengrenzwerte. So geht das eine halbe Stunde lang, bis ein älterer Herr die Hand hebt. Was die Bundesregierung gedenke, gegen die anhaltende „Flucht junger Menschen in den Westen“ zu unternehmen, will er wissen. „Wir haben über so viele schöne Projekte der Infrastruktur gesprochen, Straßen, Gebäude, Bushaltestellen – was hilft es, wenn da keine Menschen hinter sind?“
Scholz überlegt nicht lang, auf diese Frage ist er vorbereitet. Man könne nicht gleichzeitig über Fachkräftemangel klagen und trotzdem für niedrigere Löhne argumentieren, sagt er. „Das ist jetzt wirklich der letzte Zeitpunkt, wo diese Ungerechtigkeit beendet werden muss.“ Dafür gibt es Szenenapplaus, obwohl den meisten in der Runde klar sein wird, dass nach diesem letzten Zeitpunkt sehr wahrscheinlich der allerletzte kommt.
Tags darauf steht Scholz auf der Bühne des Mecklenburgischen Staatstheaters, wo der Festakt in diesem Jahr stattfindet, und mit der „Tagesthemen“-Moderatorin Jessy Wellmer und dem Radiomann Andreas Kuhlage tatsächlich mal zwei Ostdeutsche souverän durchs Programm führen. In kurzen Einspielern kommen Menschen aus der Region zu Wort. Das ist bereichernd, manchmal berührend.
Scholz schildert, wie er als junger Anwalt für Arbeitsrecht nach Leipzig kam
„Vollendet“, im Sinne von perfekt, sei die deutsche Einheit nach 34 Jahren nicht, sagt der Kanzler, auch wenn das Wort in der Präambel des Grundgesetzes steht. Nicht, solange es weniger zu erben, weniger Konzernzentralen, weniger Forschungseinrichtungen, weniger Führungspositionen im Osten des Landes gibt.
Scholz schildert, wie er als junger Anwalt für Arbeitsrecht nach Leipzig kam, um Betriebsräte eines Schwermaschinenbetriebes beim Kampf um Arbeitsplätze zu unterstützen. Für einige habe sich der Umbruch damals angefühlt wie ein Zusammenbruch: „Eine Entwertung ihres Wissens, ihrer Erfahrungen, ihrer Lebensleistung. Das gehört zur Geschichte unserer deutschen Jahrzehnte seit 1990. Das darf niemals vergessen oder unter den Teppich gekehrt werden.“
Der Bundeskanzler sieht in den Härten der Nachwendezeit die Ursache für die „besondere Stimmung und Verstimmung“ im Osten des Landes, wo sich „bis zu einem Drittel der Wählerinnen und Wähler gerade für eine autoritäre und nationalradikale Politik entscheidet“. Das schade nicht nur Sachsen, Thüringen und Brandenburg, sondern dem ganzen Land, Deutschlands Ansehen in der Welt, sagt Scholz.
Ein Jahr vor der Bundestagswahl ist so eine Festtagsrede auch eine Wahlkampfrede
Glücklicherweise sei die Mehrheit vernünftig und anständig, packe an, ohne zu „motzen“. Diese Mitte sei „viel größer als die Radikalen an den Rändern“. Für den Bundeskanzler ist die deutsche Einheit zuallererst eine Erfolgsgeschichte: die Massenarbeitslosigkeit überwunden, das Wirtschaftswachstum inzwischen größer als in Westdeutschland, die Lebenszufriedenheit habe sich angeglichen, globale Technologie-Unternehmen siedeln sich an.
Und da so eine Festtagsrede ein Jahr vor der Bundestagswahl immer auch eine Wahlkampfrede ist, verspricht der Sozialdemokrat Scholz, bestehende Probleme mit „geduldiger und beharrlicher Arbeit“ anzugehen: Investitionen, höhere Mindestlöhne und „ordentliche Tarifverträge“ gegen das Gehaltsgefälle. „Aktive Regionalpolitik“ gegen die Benachteiligung ländlicher Regionen, konkreter wird er nicht.
In Zukunft dürften weder Verklärung noch Verbitterung die Erinnerung an „diese beispiellosen Jahre des Umbruchs“ bestimmen, sagt der Bundeskanzler. Im Grunde gilt für den Zusammenhalt im Land das Gleiche wie für all die „schönen Projekte der Infrastruktur“, die im Kanzlergespräch zur Sprache kamen: Die Menschen müssen dabei sein.