Süddeutsche Zeitung

Feminismus:Sieh! Mich! An!

Lesezeit: 4 min

Frauen sind auf besondere Art verletzlich, das darf der neue Feminismus nicht leugnen. Er muss laut und wütend sein - und Männer einbeziehen.

Von Jagoda Marinić

Es hätte eine der letzten Amtshandlungen von Senator Jeff Flake werden können: Trumps Wunschkandidaten Brett Kavanaugh zum Verfassungsrichter zu machen. Trotz der Zeugenaussage von Christine Blasey Ford gegen ihn. Vor sieben Tagen ging Flake den Flur entlang, trat in den Aufzug, als sich zwei junge Frauen in die Tür stellten. Knappe fünf Minuten dauert das Video dieser Konfrontation, die wie ein Kammerspiel anzusehen ist. Maria Gallagher und Ana Maria Archilla nehmen Flake vor den Augen der Welt gefangen, schleudern ihm all jene Enttäuschungen entgegen, die sich in ihren Körpern aufgestaut haben.

Es ist der Beginn eines direkten Feminismus. Nach Jahrzehnten akademischer Überzeugungsdiskurse, die sich nicht selten in geschlossenen Kreisen bewegten, wird hier, ganz im Sinne von "Me Too", die Öffentlichkeit bemüht. Die Konfrontation ist fordernd und emotional. Ein mächtiger Mann, in dessen Hand die Entscheidung liegt, wird mit dem wütenden Typus Frau konfrontiert. Ein Archetyp, den man längst abgeschafft haben wollte: Wut sei kein Modus, in dem man erfolgreich um Rechte kämpfe, hieß es lange. Archilla und Gallagher sehen das anders. Denn als Senator Flake, sichtlich überfordert von so viel direkter Demokratie, wegschaut, schreit ihn Gallagher an: "Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!" Dieser Satz ist zu deutlich, um siezend übersetzt zu werden. Die Kameras laufen, während in Worte gefasst wird, was Millionen Frauen denken: "Sie werden diesem Mann ohnehin zur Macht verhelfen!" Wie könne Flake als Vater einer Tochter Frauen die Botschaft mitgeben, ihre Erfahrungen zählten nichts? Wenig später geht das Video weltweit viral. Jeff Flakes Stimme wird den Ausschlag dafür geben, eine Untersuchung des Falls Kavanaugh durch das FBI einzuleiten.

Wie so oft: Es sind mehrheitlich Männer, die über Kavanaughs Zukunft entscheiden, weil nach wie vor in den meisten Gremien Männer in der Überzahl sind. Auch im Supreme Court. Eine Studie nach der anderen dokumentiert die Abwesenheit von Frauen und Frauenperspektiven in wichtigen Bereichen der Gesellschaft, doch es gilt als unsexy, Quoten zu fordern. Nicht alle lassen sich davon beeindrucken. Pünktlich zur Buchmesse präsentiert das Projekt "#frauenzählen" eine Pilotstudie zur Sichtbarkeit von Frauen in Rezensionen und Literaturkritiken. Das Ergebnis: Autoren und Kritiker dominieren den literarischen Rezensionsbetrieb. In diesem letzten Satz sind Frauen nicht inbegriffen. Zwei Drittel aller Besprechungen würdigen Werke von Männern. Männer schreiben vorwiegend über Männer, mehr Platz haben Männer demnach auch. Wie spalterisch, wie kleinlich, werden manche sagen. Doch kleinlich ist der neue Trend, wenn es um Geschlechtergerechtigkeit geht, denn großzügig waren Frauen gestern und es hat sie in den meisten Fällen nicht einmal über das untere Drittel an Teilhabe hinausgebracht.

Gallagher und Archilla werden in die Geschichte der Frauenkämpfe eingehen.

"#frauenzählen" verbindet Statistik und Geschichten: Das Projekt fordert Platz für Frauen . Nur so verändert sich etwas. "Me Too" hat die einzelne Geschichte zum Motor der Frauenbewegung erkoren. Maria Gallagher hat im Aufzug zum ersten Mal von ihrem Missbrauchserlebnis gesprochen. Vor laufender Kamera, vor Millionen Fremden, nicht einmal ihre Mutter wusste es. Jetzt oder nie, dachte sie. Gallagher und Archilla werden in die Geschichte der Frauenkämpfe eingehen. So wie Christine Blasey Ford.

"Me Too" kämpft auch um Solidarität, den Opfern soll mehr Vertrauen entgegengebracht werden. Schon stürmen Männer wie Trump die Bühne, um den Vater der Söhne zu spielen. Es ist wieder Mittel der Wahl, sich als Mann aufzublähen, und so verschiebt Trump den Diskurs in Richtung Männeropfer: Es seien "gruselige Zeiten für junge Männer in Amerika, weil sie für etwas schuldig gesprochen werden können, wofür sie keine Schuld tragen". Maria Gallaghers Mut ist so beispielhaft wie furchteinflößend. Weil sie auf Emotionen gesetzt hat und auf ihre persönliche Geschichte. Sie blickt dem Senator in die Augen, fordert: "Sieh! Mich! An!" Mächtige Männer können nicht länger durchmarschieren, als gäbe es das Weibliche nur auf der Nebenspur des Lebens. Ausgerechnet in jenem Land, das Menschenrechtsbewegungen die Ästhetik und Resonanz der Popkultur ermöglicht hat, werden nun die reaktionärsten Diskurse um sexuelle Selbstbestimmung geführt.

Es sind Zeiten, in denen bei sexuellen Übergriffen auf Frauen lapidar von "grapschen" gesprochen wird, als ginge es um Kirschkernspucken. Um das zu ändern, reicht der bisherige Diskurs nicht mehr aus, es braucht eine tief greifende Bewegung. "Me Too" ist kaum ein Jahr alt, schon hört man von Verunsicherten, die nicht mehr genau wüssten, wie sie sich verhalten sollen. Das sei nicht entspannt, klagen sie. Es ist Zeit, solche Männer wissen zu lassen, wie wenig entspannt es ist, wenn Frauen bei der Wohnungssuche die Viertel unter dem Aspekt möglicher Vergewaltigungen abklopfen, wie unschön es ist, wenn junge Frauen ihr Studium beginnen und im Park vor dem Wohnheim regelmäßig Frauen angegriffen werden. Es ist auch nicht entspannt, wenn andere Frauen sich mit Tätern solidarisieren und so tun, als sei Selbstbewusstsein ein Schutzschild gegen Sexualdelikte.

Männer sollen sich outen

Der Feminismus hat Frauen jahrzehntelang neue Rollen erstritten, er hat stärkere Selbstbilder angeboten. Das war gut. Der Feminismus heute erinnert wieder daran, wo Verletzbarkeit nicht selbstgewählt ist. Die Dekonstruktion der Geschlechterrollen hat den weiblichen Körper nicht abgeschafft. Es gibt eine spezifische Verletzbarkeit der Frau. Sie zeigt sich auch im Versuch der Demütigung im öffentlichen Raum. Das konservative Amerika bemüht sich gerade, den Archetyp Mann zu retten, der seines Mannseins wegen auf alles ein Vorrecht zu haben meint. Es ist eine gute Zeit, neue Verbündete zu suchen. Jene Männer zum Beispiel, die an Frauen denken, die sie lieben, und die deren Demütigung unerträglich fänden. Diese Männer sollten sich outen. Mit ihnen wäre selbst ein Kavanaugh aufzuhalten. "Me Too" könnte von jetzt an heißen: Männer auch. Denn das Trauerspiel, das manche Männer diese Woche medial geboten haben, will für die Zukunft keiner.

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Quelle:
SZ vom 06.10.2018
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