Süddeutsche Zeitung

FDP und der Mindestlohn:Mitfühlender Anti-Sozialismus

Nach einer dramatischen Debatte einigt sich die FDP auf den Mindestlohn. Sie lässt sich auf den Versuch ein, mitfühlender zu werden. Im Herbst werden deshalb nicht unbedingt mehr Menschen für die Liberalen abstimmen. Doch der Beschluss macht deutlich: Die Partei lebt.

Ein Kommentar von Stefan Braun, Nürnberg

Sind nun alle Liberalen Sozialisten? Hat die FDP einen Markenkern über Bord geworfen? Ist gar das Ende der Sozialen Marktwirtschaft angebrochen? Nichts von alle dem. Die FDP hat sich mit ihrer Entscheidung für Lohnuntergrenzen nur der sozialen Wirklichkeit in diesem Land angenähert. Und das mit einer spannenden Debatte, die jeder demokratischen Partei gut zu Gesicht steht.

Als die Aussprache vorbei ist, kann niemand in der Parteiführung seine Unsicherheit verbergen. Und das ist das Beste, was ihr passieren konnte. So nämlich wünscht man sich politische Parteien. Man wünscht sich, dass sie mit Leidenschaft diskutieren und um Mehrheiten ringen. Man wünscht sich, dass die Abstimmungen danach nicht schon vorher abgesprochen und sortiert sind. Und man wünscht sich, dass es dabei nicht um Ersatzthemen geht, sondern um zentrale Fragen.

Unbeherrschbare Debatte

Am Samstagabend ist der FDP das gelungen. Nicht, weil die Parteispitze sich das so gewünscht hätte. Über die Frage, ob die Partei sich für regional unterschiedliche, branchenspezifische Lohnuntergrenzen einsetzen soll, nahm eine Debatte ihren Lauf, die nicht beherrscht werden konnte. Gut so.

Gegner und Befürworter kämpften vehement und meistens sachlich für ihre Positionen. Dabei gaben sich Bayerns Wirtschaftsminister Martin Zeil, Sachsens Landeschef Holger Zastrow und der Stuttgarter Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke als besonders entschlossene Gegner. Zeil bestritt, dass es überhaupt echte Probleme gebe. Zastrow warnte davor, dass die angedachte Lösung in Ostdeutschland wie ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn wirken werde. Sein Votum: Mit mir nicht! Und Rülke sah in dem Bemühen der Parteispitze vor allem den Versuch, dem Zeitgeist hinterher zu rennen.

Der Beschluss bringt keine Stimmen

Die Befürworter widersprachen diesen Darstellungen vehement und kämpften vor allem mit dem Argument, eine Regierungspartei dürfe bestimmte Probleme nicht ignorieren, sondern müsse Lösungen anbieten. Wolfgang Kubicki gehörte dazu, aber auch Rainer Brüderle, Philipp Rösler und Gesundheitsminister Daniel Bahr. Der Baden-Württemberger Florian Toncar erinnerte überdies daran, dass es mit der Einführung der Hartz-Gesetze gerade bei den untersten Lohngruppen keine echte Waffengleichheit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern mehr gebe, weil viele nun gezwungen seien, einen ihnen angebotenen Job anzunehmen. Das traf den Kern des Problems wahrscheinlich am besten. Am Ende stimmten 57 Prozent für die Linie der Parteispitze.

Der Beschluss von Nürnberg wird der FDP bei der Bundestagswahl wohl nicht viele neue Stimmen bringen. Aber wenn eine Partei ernsthaft Regierungspartei sein will, darf sie Notlagen am unteren Ende der Gesellschaft nicht länger ignorieren. Dass die Liberalen dies derart offen diskutiert hat, zeigt auf ungewöhnliche Weise, dass sie lebendiger ist, als viele zuletzt gedacht haben.

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