Christian Lindner hat schon fast eine Stunde geredet, hat routiniert alle wichtigen Wahlkampfforderungen der FDP referiert, die Zustimmung zu Steuererhöhungen und ein Aufweichen der Schuldenbremse ausgeschlossen, als es dann doch noch eine Überraschung gibt. Der FDP-Chef macht sich beim Parteitag eine Woche vor der Wahl plötzlich stark für eine andere Partei. So wie SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz über Forderungen und Pläne der Grünen geredet habe, das klinge "wie Koch und Kellner".
Mit diesen Worten hatte Gerhard Schröder 1998 die Grünen auf ihren Platz verwiesen, und es hat Gründe, dass Christian Lindner ausgerechnet jetzt in der alten Wunde reibt. Sie haben weniger mit dem noch laufenden Wahlkampf zu tun als mit der Zeit danach: Die Pläne des Christian Lindner kreisen ganz wesentlich um die Grünen.
Vielleicht überlässt der FDP-Chef die schärfsten Töne deshalb einem anderen. Deutschland werde "Schritt für Schritt deindustrialisiert", das Klima dadurch aber nicht gerettet, warnt Wolfgang Reitzle, der frühere Chef von Linde und derzeitige Aufsichtsratschef von Continental. Am kommenden Sonntag stehe das Land vor einer "Richtungswahl", ruft der 72-Jährige Gastredner zwischen Wettbewerb und Freiheit einerseits und "Verzicht, Lenkung, Verbotskultur" andererseits.
Lindner nennt die Rede des Wirtschaftsführers "wohltuend". Aber zumindest das Finale seiner Rede offenbart, dass er schon jetzt stärker mit der komplizierten Beziehungskiste beschäftigt ist, die ihn nach dem Wahltag erwartet. Er macht seit Monaten keinen Hehl daraus, dass er auf ein Jamaika-Bündnis mit Union und Grünen setzt. Eine Ampel mit SPD und Grünen schließt er zwar nicht aus, für Avancen des SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz zeigt er sich aber beharrlich unempfänglich. Als Scholz kürzlich sagte, Pläne der Grünen würden wie ein "Kartenhaus" zusammenfallen, weil es bei der Schuldenbremse bleiben werde, wollte er sicher auch der FDP gefallen. Lindners kühle Antwort aber ist der Koch-und Kellner-Vergleich. Die "sinnvollen Vorhaben" der Grünen könnten doch auch durch Einsparungen an anderer Stelle finanziert werden, wirbt er.
Schärfer noch als mit der SPD geht Lindner mit der Union ins Gericht. Dahinter steht die Sorge, die Union könnte in der Schlussphase noch Wähler von der FDP abziehen. Zwar arbeite man mit Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet in einer schwarz-gelben Koalition in Nordrhein-Westfalen fair und partnerschaftlich zusammen und stehe der Union auch mit Blick auf "viele Grundüberzeugungen" näher, sagt Lindner. Allerdings fehle der CDU/CSU ein klarer Kurs. "Man hat das Gefühl, die Union ist auch mit sich nicht im Reinen", sagt er. Forderungen von CSU-Chef Markus Söder, die FDP solle ein Ampel-Bündnis ausschließen, weist Lindner geradezu emotional zurück. "Von dieser Union nehmen wir keine Anweisungen entgegen", ruft er. Die Union sei schließlich 2017 in vielen Politikbereichen bereit gewesen, "nahezu die Richtlinienkompetenz an die Grünen abzugeben".
Als Wahlziel gibt Lindner die Parole aus, im Wahlergebnis möglichst nah an die Grünen heranzurücken und sie womöglich gar zu überholen. "Entscheidenden Einfluss haben wir dann, wenn es uns gelingt, den Abstand zu den Grünen zu verkürzen", sagt er.
Lindners Plan ist klar: Er will, dass nach der Wahl keinesfalls nur über eine Ampel, sondern auch über Jamaika gesprochen wird. Man gehe nicht mit einer Koalitionsaussage für eine andere Partei in die Bundestagswahl, "sondern mit einer inhaltlichen Koalitionsaussage", heißt es dann im von den Delegierten verabschiedeten Wahlaufruf. Die FDP trete "nur in eine Regierung ein, die einen Kurs der Mitte garantiert und die auf die Herausforderungen unserer Zeit mit dem Vertrauen auf Marktwirtschaft, Rechtsstaat und Europa antwortet". Eine "Linksverschiebung der Politik in Deutschland" werde es mit der FDP nicht geben.