Sechs Stunden und 19 Minuten dauerte es, bis sie in der FDP-Fraktion eingesehen haben, dass die Sache mit der Verfassungsbeschwerde wohl nicht klappen wird, zumindest nicht so wie geplant. "Wir haben es von 15.59 Uhr bis 22.18 Uhr per Fax probiert", erzählt Marco Buschmann, der parlamentarische Geschäftsführer der FDP im Bundestag, von den Anstrengungen der Partei am Montag. Dann habe man aufgegeben und stattdessen am Dienstmorgen einen Boten nach Karlsruhe geschickt. Der hat die Unterlagen beim Bundesverfassungsgericht eingereicht: eine Verfassungsbeschwerde gegen die "Bundesnotbremse", die seit dem vergangenen Wochenende in Kraft ist.
Vor allem die nächtliche Ausgangssperre, die das neue Bundesgesetz vorsieht, hält die FDP für verfassungswidrig. Einen solch "tiefen Grundrechtseingriff" nur mit einem Inzidenzwert zu begründen, sei nicht ausreichend, finden die Liberalen. Es sollte mindestens zwischen einem Infektionscluster - etwa bei dem Ausbruch in einem einzelnen Betrieb - und einem diffusen Infektionsgeschehen in einer Region unterschieden werden. Viele Verwaltungsgerichte hätten diesen Punkt bereits als relevant anerkannt.
Zudem müsse man Menschen mit vollständigem Impfschutz sofort ihre Grundrechte wieder zurückgeben. Die Diskussion über die Einschränkungen sei mitunter irritierend, findet Buschmann: Es gebe eben keine "Standardlebensläufe" mehr in einer individualisierten Gesellschaft, Bürger sollten sich nicht dafür rechtfertigen müssen, ihre Freiheitsrechte auszuüben. Die Diskussion zu führen nach dem Motto "Ich mache das nicht, warum willst du das dann machen: nachts vor die Tür gehen?" - das sei "die falsche Frage", so der FDP-Politiker.
Neben diesen beiden inhaltlichen Punkten rechnet sich die Partei auch Chancen aus, das Infektionsschutzgesetz wegen eines formalen Aspekts zu kippen: Die Bundesnotbremse sei als "Einspruchsgesetz" behandelt worden, der Bundesrat hätte das Gesetz somit nur verzögern, aber nicht verhindern können. Es seien aber durchaus Kriterien erfüllt, die die Regelung zu einem Zustimmungsgesetz machen würden, das auch vom Bundesrat hätte positiv beschieden werden müssen. Auch deshalb könne die Verfassungsbeschwerde erfolgreich sein, glaubt die Partei.
Karlsruhe wird wohl sehr schnell entscheiden
Insgesamt sind beim Bundesverfassungsgericht bis Dienstagnachmittag 111 Verfassungsbeschwerden eingegangen, teilweise mit mehreren Klägern. Wann über die Eilanträge entschieden wird, ist offen, aber die Verfahren werden vordringlich behandelt, sodass es eher eine Frage von Tagen denn von Wochen sein dürfte.
Unter den Klägern ist etwa der SPD-Bundestagsabgeordnete Florian Post mit vier Mitstreitern, vertreten durch den Freiburger Rechtsprofessor Dietrich Murswiek. Auch er hält den Nutzen der Ausgangssperre für zu gering, auch er wendet sich gegen den starren Automatismus der Inzidenzwerte.
Die Beschwerde geht aber noch einen Schritt weiter: Mit dem direkt geltenden "Maßnahmegesetz" entfalle jede Möglichkeit für die Verwaltung, die Beschränkungen zum Beispiel örtlichen Gegebenheiten anzupassen - dies sei unverhältnismäßig. Zudem sei den Bürgern damit der Rechtsschutz bei den Verwaltungsgerichten abgeschnitten, es bleibe allein der Gang zum Verfassungsgericht. Gerügt werden zudem einzelne Punkte, etwa Verbote für Museen, Außengastronomie oder Ferienhäuser, in denen kaum Infektionsgefahr drohe.
Die "Gesellschaft für Freiheitsrechte" unterstützt eine von der Flensburger Rechtsprofessorin Anna Katharina Mangold verfasste Beschwerde, der sich Politiker von SPD, Grünen, FDP und Linken angeschlossen haben. Auch sie hält die Ausgangssperre für wenig wirksam, fügt aber ein weiteres Argument hinzu: Eine streng durchgesetzte Home-Office-Pflicht für Betriebe würde die Ansteckungsgefahr ungleich stärker verringern, sowohl in den Büros als auch in den Pendlerzügen. Auch regelmäßiges Testen könnte dazu beitragen. Soll heißen: Solange die Möglichkeiten im Arbeitsleben nicht annähernd ausgeschöpft sind, ist eine vergleichsweise wenig effektive Maßnahme wie die Ausgangssperre nicht zu rechtfertigen.