Süddeutsche Zeitung

Familienpolitik:Die Entdeckung der Kinder

Der westliche Sozialstaat kümmerte sich um vieles, doch wie es den Familien ging, interessierte ihn bislang kaum. Dieses alte Modell der staatlichen Zurückhaltung zerbröselt. Ein neuer, realistischer Blick auf die Familien ist eine Ursache für die neuen Maßnahmen.

Felix Berth

Der klassische deutsche Sozialstaat gewährte seinen Bürgern Sicherheit in schwierigen Lebenslagen. Ihr mögt krank werden, doch die Arztrechnungen müsst ihr nicht alleine bezahlen, verhießen die Gesetze des Reichskanzlers Bismarck.

Ihr könnt alt werden, doch ihr müsst nicht verarmen, versprachen die Rentenreformen Adenauers. Ihr dürft ins Altersheim gehen, ohne dass eure Familien dies finanzieren müssen, kündigte die Pflegeversicherung des Sozialministers Blüm an.

Viele Versprechungen, viele Leistungen - und eine Leerstelle: Wie es den Familien ging, interessierte den westdeutschen Sozialstaat kaum; lediglich im Fall großer Probleme sollten Behörden eingreifen. Der Staat gab den Familien Geld; alles weitere überließ er Vätern und Müttern.

Diese jahrzehntelange Zurückhaltung ließ sich in einer Formel bündeln: Politik hat sich nicht einzumischen in die Sphäre der Familien. Dies war Abgrenzung mit historischem wie aktuell-politischem Kern - zum einen vom Nationalsozialismus mit seiner Bevormundung der Familien, zum anderen von der DDR mit ihren massiven Interventionen, die von der Geburtenförderung bis zur Bespitzelung reichten.

Mit Geld allein ist den Familien nicht geholfen

Doch das alte westdeutsche Modell von der staatlichen Enthaltsamkeit zerbröselt. Nun haben sich die Sozialminister der Bundesländer darauf geeinigt, bis zum Jahr 2013 etwa eine halbe Million Krippenplätze zu schaffen. Manche Länder senken überdies die Gebühren für die Kindergärten drastisch, und alle reden davon, dass der Staat die Bildungschancen für die Kleinsten steigern muss. Was vor ein paar Jahren nur eine Minderheit formulierte, erscheint plötzlich beinahe als Konsens: Mit Geld allein ist den Familien nicht geholfen.

Ein erstaunlich schneller Lernprozess. Dass er - mit gelegentlichen Rückschlägen - zu gelingen scheint, hat mehrere Ursachen. So ist den Jüngeren längst klar, dass dem alten Modell die Basis weggebrochen ist: Ehen sind nicht mehr stabil wie früher. Gut ausgebildete Frauen finden sich nicht damit ab, unbezahlte Hausarbeit zu erledigen. Männer können ihre Rolle als ,,Oberhaupt'' einer Familie immer seltener erfüllen, schon weil die Jobs nicht mehr sicher sind wie noch vor ein paar Jahrzehnten.

All das fügt sich bei den meisten Jüngeren zu einem neuen, realistischen Blick auf die Familien. Im Mittelpunkt steht dabei die Erwerbstätigkeit der Frauen. Denn ohne sie wird das fragile Konstrukt einer modernen Familie viel zu unsicher - was geschieht denn sonst, falls der Mann den Job verliert oder die Beziehung scheitert? Es drohen Armut und Abstieg. Verhindern lässt sich das aus Sicht vieler Betroffener nur, wenn die Frauen arbeiten, was sich überdies häufig mit ihren persönlichen Ambitionen deckt.

Bei den Älteren schließlich schafft der Constanze-Stoiber-Effekt Verständnis: Wer als Großvater erlebt, dass die akademisch gebildete Tochter wegen der Betreuung des Enkels kaum arbeiten kann, entwickelt schnell Verständnis für die Forderung nach mehr und besserer Kinderbetreuung. Und auch den meisten Kinderlosen dämmert die Bedeutung des Nachwuchses: Kinder sind in der Bundesrepublik zu einem knappen Gut geworden; jeder, der in den nächsten Jahrzehnten in Rente geht, hat ein Interesse daran, dass die nachfolgende Generation aus möglichst vielen und gut ausgebildeten Menschen besteht.

Von der Leyen hat kaum noch Gegner

Die Große Koalition hat auf diesen Wandel der Mentalitäten bisher angemessen reagiert. Sie hat das Elterngeld beschlossen, die Betreuungs-Freibeträge erhöht, die Krippen-Diskussion angestoßen und auf einen erfolgversprechenden Weg gebracht. Vieles davon geschieht unter erschwerten, weil föderalistischen Bedingungen: Wenn 16 Bundesländer die Notwendigkeit von Kinderkrippen einsehen sollen, dauert das länger als in einem Zentralstaat wie Frankreich, wo ,,durchregiert'' werden kann und überdies eine Familienkasse die staatlichen Leistungen für Eltern und Kinder bündelt. Doch das Ergebnis des ,,Krippengipfels'' vom Montag zeigt, dass das Projekt von Ursula von der Leyen kaum noch Gegner hat.

Ein politischer Erfolg erscheint auch möglich, weil die zentralen Ziele einer modernen Familienpolitik glücklicherweise parallel erreichbar sind. Zum einen brauchen Frauen eine Chance auf Erwerbstätigkeit trotz Mutterschaft, zum anderen benötigen Kinder einen besseren Start in ihre Bildungskarrieren. Der Auf- und Ausbau einer hochwertigen Kinderbetreuung ermöglicht beides und kann sich als zentrales Projekt eines modernen Sozialstaats erweisen.

Auch Armut lässt sich auf diese Weise effektiv bekämpfen. Denn sobald in einer Familie beide Partner arbeiten, sinken die Armutsquoten drastisch - ein Grund, dieses Familienmodell politisch zu fördern. Und anders als der Neubau von Hallenbädern oder Autobahnen hat der Ausbau der Kinderbetreuung eine höchst erwünschte Signalwirkung: Er demonstriert ganz nebenbei, dass sich der deutsche Staat von seiner Fixierung auf die Sicherung der Renten löst und sich für die Lebenswirklichkeit junger Familien engagiert.

Ein Land, das einen ,,Krieg der Generationen'' in der Zukunft verhindern will, kann nichts Besseres tun als sich um die Kinder von heute kümmern.

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Quelle:
SZ vom 3.4.2007
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