Süddeutsche Zeitung

Familie nach Scheidung:Zuhause im Plural

Soll das Familienrecht das "Doppelresidenzmodell" einführen? Sollen Kinder also künftig bei Vater und Mutter jeweils gleich viele Tage leben? Ist das praktikabel? Wenn sich die Eltern so gut verstehen, dass das funktioniert, müssen sie sich eigentlich nicht scheiden lassen.

Von Heribert Prantl

Die Familie ist der Ort, der Kindern Schutz und Nähe gibt; Familie ist Heimat, sie ist sozialer Hafen - sie soll es jedenfalls sein. Das Wort "Familienrecht" verdient nur ein Recht, das dabei Hilfe leistet. Zumal dann, wenn sich Eltern trennen, also die bisherige Familie zerfällt, muss das Familienrecht gute Regeln bereithalten dafür, wer wie die Sorge für das Kind übernimmt und wo die Kinder ihr Zuhause haben. Das Recht muss dann auch klären helfen, wo und wie die Familie weiterleben kann.

Die rechtliche Regel in Deutschland sieht derzeit so aus: Die Eltern erhalten das gemeinsame Sorgerecht; Kind oder Kinder leben aber sehr oft bei der Mutter; der Vater erhält ein Umgangs- und Besuchsrecht. "Einzelresidenzmodell" wird das unter Fachleuten genannt; das Kind lebt hier überwiegend bei einem Elternteil, auch wenn die Eltern gemeinsam das Sorgerecht haben. Die Väter kommen, so die Klage vieler, viel zu kurz.

Die Pendelkinder: Leben sie fast im Himmel? Oder im Kreidekreis?

Der Europarat hat vor ein paar Monaten an dieser Regel gerüttelt. Per Resolution hat er die Mitgliedsstaaten aufgefordert, das "Doppelresidenzmodell" per Gesetz als Standardmodell einzuführen - und Ausnahmen auf Fälle von Kindesmisshandlung zu beschränken. Die Kinder sollen also zwei gleichwertige Zuhause, zwei Zuhäuser, haben, eines bei der Mutter und eines beim Vater; und in jedem Zuhause sollen sie gleich lange Zeiten leben. Weil die Kinder Dauerpendler werden, heißt das Modell auch "Pendelmodell" oder "paritätisches Wechselmodell". Der Europarat meint, dass sich so die Rechte der Eltern am besten verwirklichen ließen. Auf das Kindeswohl geht er nicht weiter ein. In Deutschland hat der Vorstoß zu heftigen Reaktionen geführt; bei den deutschen Familienjuristen überwiegen Unverständnis und Empörung. Die Kinderrechtskommission des Familiengerichtstags erklärt, dass das Modell jedenfalls bei Kleinkindern "praktisch kaum kindgerecht durchführbar" sei. Und in der Neuen Juristischen Wochenschrift, dem Flaggschiff deutscher Juristerei, reitet soeben der Regensburger Familienrechtsprofessor Martin Löhnig scharfe Attacken gegen das Wechselmodell. Unter dem Titel "Wo bleibt das Wohl der Wechselkinder?" schreibt er: "Wer das Zeitalter der Pendelkinder einläutet, beendet das Zeitalter kindeswohlbezogenen Denkens im Familienrecht." Löhnig rät der Bibliothek des Europarats sarkastisch, sich ein Exemplar von Brechts "Kaukasischem Kreidekreis" anzuschaffen.

In der Tat sollte man das paritätische Wechselmodell nicht als gesetzliche Regel verankern. Warum nicht? Es kann zwar im Einzelfall dem Kindeswohl entsprechen, es kann gutgehen - aber nicht immer. Man kann es also nicht vorschreiben. Die Begeisterung in den zuständigen Ministerien hält sich richtigerweise in Grenzen. Und ganz abgesehen von Gesetzen: Finanzieren lässt sich das Doppelresidenzmodell ohnehin nur für gut situierte Eltern, für solche also, die das Geld haben, Spiel-, Schul- und Anziehsachen doppelt anzuschaffen. Es erfordert im Übrigen ein sehr gutes Verhältnis zwischen den getrennten Eltern; das kann man sich wünschen, aber nicht per Gesetz ausrufen. Das Doppelresidenzmodell lebt von so viel Einvernehmen zwischen den Eltern, dass man sich wundern kann, dass sie sich haben scheiden lassen.

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SZ vom 12.03.2016
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