Falscher KZ-Überlebender Enric Marco:Hochstapler des Holocaust

SPAIN-AMICAL MAUTHAUSEN-MARCO

Repräsentant der Überlebenden - aber ein falscher: Enric Marco im Jahr 2003 bei einer Befreiungsfeier in Mauthausen bei Linz.

(Foto: AFP)

Er klang authentischer als die echten Deportierten: Der Spanier Enric Marco gab sich über Jahre hinweg als KZ-Überlebender aus. Schriftsteller Javier Cercas seziert die Lügengeschichte.

Von Sebastian Schoepp

Enric Marco galt jahrelang als das Gesicht der Vergangenheitsbewältigung in Spanien. Er war Sprecher einer wichtigen Vereinigung der Holocaust-Opfer, hielt bewegende Reden zu Jahrestagen, an denen er als Überlebender des Konzentrationslagers Flossenbürg auftrat und Millionen Fernsehzuschauer und sogar Parlamentarier zu Tränen rührte.

Marco sprach vor Schülern, auf Symposien, gab Hunderte Interviews, er wirkte wie ein spanischer Max Mannheimer - bis zu jenem Tag im Jahr 2005, als ein Historiker Ungereimtheiten im Lebenslauf des 94-Jährigen nachwies. Marco war nie in einem KZ gewesen, wesentliche Teile seiner Biografie waren frisiert. Der Skandal um den Hochstapler beendete schlagartig das kurz aufgeflammte Interesse der Spanier am Holocaust.

Der Schriftsteller Javier Cercas, Spezialist für historische Rekonstruktionen mit journalistischen Mitteln, hat sich des Falls in seinem neuen Buch angenommen. "Der falsche Überlebende" kreist auf überaus spannende Weise Marcos Lebenslügen ein. In stundenlangen Interviews befragt der Schriftsteller Marco, versucht, sich dieser Persönlichkeit zu nähern, die der Memoria historica, wie es in Spanien heißt, einen derartigen Bärendienst erwiesen hat.

Dabei tritt Erstaunliches zu Tage. Nicht nur, dass Marco nicht in einem KZ war, ja, er war nicht mal der Untergrundkämpfer, als der er sich ausgab. Er war tatsächlich zu Kriegszeiten in Deutschland gewesen, jedoch nicht als einer jener 15 000 geflohenen spanischen Republikaner, die der Gestapo in Frankreich ins Netz gingen. Marco hatte sich vielmehr in Barcelona freiwillig zum Arbeitsdienst im Deutschen Reich gemeldet, das zum faschistischen Spanien enge Beziehungen unterhielt. Damit wollte er sich vor dem Militärdienst drücken.

Rolle seines Lebens

Er arbeitete auf einer Werft in Kiel, wo man seine Fähigkeiten als Mechaniker schätzte; bis er als Anhänger der von Franco weggeputschten spanischen Republik - eines der wenigen Details in Marcos Lebenslauf, die stimmen - denunziert wurde und ins Zuchthaus kam. Aus diesem wurde er jedoch nach dem Freispruch eines deutschen Gerichts entlassen; 1943, als Franco von Hitler abrückte, beantragte Marco seine Repatriierung und kehrte heim.

In Barcelona lebte er in den bleiernen Jahren der Diktatur als Automechaniker, ohne aufzufallen. Erst mit der Rückkehr der Demokratie nach Francos Tod 1975 kam Marcos große Stunde. Nun konnte er sein außergewöhnliches Redetalent ausleben, er wurde Anführer der anarchistischen Gewerkschaft CNT, danach Sprecher eines wichtigen Erziehungsverbandes - bis er im Jahr 2000 die Rolle seines Lebens gefunden habe, wie Cercas schreibt: als KZ-Opfer.

Die Gelegenheit war günstig. Der letzte Vorsitzende des Amical de Mauthausen, Joan Escuer, war alt und gebrechlich. Marco war zwar auch schon 79, aber bei guter Gesundheit und geistig frisch. Man konnte den jugendlich wirkenden Mann mit dem schwarzen Schnurrbart im Jahr 2001 in den Geschäftsräumen des Amical herumwuseln und sich wichtig machen sehen.

Typischer Repräsentant der mediokren Nachkriegszeit Spaniens

Seine Antworten waren rhetorisch geschliffen und analytisch, während Interviews mit den anderen alten Kämpen oft mühsam und langatmig waren. "Marco klang authentischer als die echten Deportierten", schreibt Cercas. So sei dieser Mann zum Liebling der Presse, zum "Champion", ja zum "Rockstar", der Memoria historica aufgestiegen.

Was es ihm leicht machte, war, dass in Spanien, das im Weltkrieg ja neutral gewesen war, sehr wenig Wissen über den Holocaust kursiert. Mit Nazi-Verfolgung waren eigentlich nur jene Spanier in Berührung gekommen, die in Frankreich in der Résistance gekämpft hatten.

Die Beweggründe dieses Menschen, der mit einer "monumentalen Lüge" lebt, findet Cercas in Marcos Biografie: seine Mutter lebte in einer Nervenheilanstalt, kindliche Vernachlässigung kann zu Narzissmus führen. Doch Cercas, wie immer gnadenloser Chronist der Verirrungen seines eigenen Landes, geht mehrere Schritte weiter. Er beschreibt Marco am Ende als typischen Repräsentanten der mediokren spanischen Nachkriegszeit.

War sein Schicksal nicht exemplarisch für viele, die sich mit listigem Unterschleif durch die dunklen Jahren wurstelten, um sich nach deren Ende eine opportunistische Opferbiografie zusammenzubasteln und die eigene Feigheit während der Diktatur zu verschleiern? In seiner Rolle als KZ-Überlebender sei Marco dann die "Verkörperung des historischen Kitschs" und der Instrumentalisierung durch die Linke gewesen, zu der die Memoria historica nach dem Jahr 2000 verkommen sei. Marco, so urteilt Cercas, "war die Mehrheit der Spanier".

Rechtfertigung der "noblen Lüge"

Dazu passt, dass Marco irgendwann den Spieß umdreht. Er wirft Cercas vor, selber ein Hochstapler zu sein, schließlich habe er die "Industrie der Memorica historica" ja selber ausgelöst durch seinen 2001 erschienen Roman "Soldaten von Salamis". Darin lässt Cercas einen fiktiven Veteranen des spanischen Bürgerkriegs auftreten, der aber so authentisch wirkt, dass man ihn für real hält.

Hat Cercas also selbst den Boden bereitet für einen Mann wie Marco? Immerhin muss Cercas zugeben, eine ähnliche Absicht verfolgt zu haben: nämlich durch eine erfundene Geschichte das Interesse an der echten Geschichte zu wecken - und genau so lautete die Rechtfertigung des Hochstaplers Marco für seine "noble Lüge".

Letztlich ist der Versuch, Marcos Motive nachzuzeichnen, um eine moralische Frage herumkonstruiert: heißt verstehen auch rechtfertigen? Der Autor beantwortet diese abschlägig: man müsse verstehen wollen, nur dann könne man verhindern, dass sich ein Fall Marco wiederhole - oder vielleicht sogar die Geschichte, für die er bis zu seiner Enttarnung gestanden hat.

Javier Cercas: Der falsche Überlebende. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 496 Seiten, 24 Euro, E-Book: 19,99 Euro

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