Fall Timoschenko:Kiew droht Deutschland mit wirtschaftlichen Nachteilen

Die Spannungen zwischen der Ukraine und dem Westen wachsen: Nach der Diskussion um einen politischen Boykott der Fußball-EM warnt die Führung in Kiew Deutschland vor einer Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen. Der inhaftierten Oppositionspolitikerin Timoschenko soll wegen ihres Hungerstreiks nun die Zwangsernährung drohen.

Der Streit um die inhaftierte Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko und einen politischen Boykott der Fußball-EM in der Ukraine wird zur Belastungsprobe für die Beziehungen zwischen Berlin und Kiew. "Das Außenministerium hält die Versuche einer Politisierung von Sportereignissen für destruktiv", teilte das Ministerium in Kiew mit. Zugleich warnte der Vize-Präsident der Partei von Präsident Viktor Janukowitsch, Leonid Koschara, Deutschland vor wirtschaftlichen Konsequenzen, wie Spiegel Online berichtete.

Julia Timoschenko

Julia Timoschenko während eines Gerichtsverfahrens gegen sie im Juli 2011.

(Foto: dpa)

Sollten Vereinbarungen wie das auf Eis liegende EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine am Fall Timoschenko scheitern, würden die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern in Mitleidenschaft gezogen. "Ohne Abkommen wird der deutsche Zugang zum ukrainischen Markt begrenzt sein", sagte Koschara weiter. Die deutschen Hersteller würden verlieren. Koschara unterstellte außerdem, westliche Politiker empfänden das Scheitern der Orangenen Revolution auch als persönliche Niederlage und nähmen daher auch den Fall Timoschenko persönlich.

Die EU-Kommission will die Fußball-Europameisterschaft nach eigener Aussage zwar nicht geschlossen "boykottieren", zumindest aber keine Spiele in der Ukraine besuchen. "Kein Kommissar wird zu irgendeinem Spiel in der Ukraine gehen", bestätigte der Sprecher von Sportkommissarin Androulla Vassiliou.

Unterstützung für Barrosos Entscheidung

Zuvor hatte seine Vorgesetzte als erstes Kabinettsmitglied nach Kommissionspräsident José Manuel Barroso offiziell erklärt, den Spielen in der Ukraine fernbleiben zu wollen - und damit mehr als bloße Unterstützung für Barrosos Entschluss signalisiert. Das zweite Ausrichterland Polen sei von dieser Ankündigung ausdrücklich ausgenommen, sagte Vassilous Sprecher. In ihrer Sitzung am Mittwoch hätten die Kommissionsmitglieder vereinbart, "dass keiner von ihnen eine Einladung zu einem Spiel in der Ukraine annehmen wird". Aus Rücksicht auf Polen wolle man das Fernbleiben der Kommissionsmitglieder ausdrücklich nicht als Boykott verstanden wissen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Regierung lassen weiter offen, ob sie Spiele der Fußball-EM in der Ukraine besuchen oder das Turnier boykottieren. Dies werde kurzfristig entschieden, und zwar "unter besonderer Berücksichtigung des Falls Timoschenko", sagte der stellvertretende Regierungssprecher Georg Streiter. Zurzeit gebe es keine Reisepläne Merkels - auch nicht nach Polen, das die EM zusammen mit der Ukraine ausrichtet.

Streiter sagte, Vertreter der Bundesregierung seien selbstverständlich im Kontakt mit ukrainischen Regierungsstellen und bemühten sich "mit allen Kräften" um eine Lösung im Fall Timoschenko. Der Sprecher des Auswärtigen Amts, Andreas Peschke, sagte, dies dürfte aber "noch einige Zeit" dauern. Das bereits ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU werde durch diese Rückschläge in Frage gestellt.

Charité-Chef besucht Timoschenko

Die Bundesbürger jedenfalls würden einen politischen Boykott der EM begrüßen. Etwa drei Viertel der Deutschen befürworten dies einer Umfrage zufolge. So sähen 74 Prozent im Fernbleiben von Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrer Minister eine angemessene Reaktion auf die Inhaftierung von Timoschenko, heißt es im am Donnerstagabend veröffentlichten Deutschlandtrend der ARD. 23 Prozent teilen diese Auffassung nicht. Mit 53 Prozent gibt es auch eine Mehrheit für politische und wirtschaftliche Sanktionen gegen die ehemalige Sowjetrepublik.

Dagegen befürwortet nur eine Minderheit einen sportlichen Boykott: So sind lediglich 30 Prozent dafür, dass auch die Fußballer nicht zu den Spielen in der Ukraine auflaufen. Das Land ist mit Polen Gastgeber des Turniers im Juni und Juli. Die Gruppenspiele der deutschen Mannschaft finden in Charkow - nur wenige Kilometer von Timoschenkos Gefängnis entfernt - und in Lemberg statt. Das EM-Finale wird am 1. Juli in der ukrainischen Hauptstadt Kiew ausgetragen.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hält den Schritt der EU-Kommission für falsch. Seine Organisation rufe generell nicht zum Boykott solcher Veranstaltungen auf, sagte der Generalsekretär von Amnesty-Deutschland, Wolfgang Grenz, Handelsblatt Online. "Aber Politiker und Sportfunktionäre, die in die Ukraine reisen, müssen die Gelegenheit nutzen, um auf die schweren Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen und von der ukrainischen Regierung einen besseren Menschenrechtsschutz fordern." Dabei dürfe es aber nicht nur um die inhaftierte Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko gehen.

Zuvor hatte sich Russlands Regierungschef und designierter Präsident zur Causa Timoschenko geäußert. Wladimir Putin erklärte, Moskau übernehme die erkrankte Oppositionsführerin "gerne", falls sie selbst dies wünsche und die Führung in Kiew zustimme. Er kritisierte erneut die Verurteilung Timoschenkos zu sieben Jahren Haft wegen eines angeblich fehlerhaften Gasvertrags mit Russland. Das Abkommen sei rechtens. Putin kritisierte aber auch westliche Politiker für ihren angekündigten Boykott der Fußball-EM.

Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft hat das Angebot Putins, Timoschenko in Moskau behandeln zu lassen, mittlerweile abgelehnt. Schon Deutschland sei darüber informiert worden, dass die ukrainische Gesetzgebung eine Pflege von Häftlingen im Ausland nicht vorsehe, sagte ein Sprecher in Kiew. Auch die Bundesregierung hatte mehrfach angeboten, Timoschenko in Deutschland behandeln zu lassen.

Gefängnis bereitet angeblich Zwangsernährung vor

Timoschenkos Gesundheitszustand verschlechtert sich nach Angaben ihrer Tochter von Tag zu Tag. Sie habe ihre Mutter am Donnerstag besucht, und diese sei "viel schwächer, als sie noch vor ein paar Tagen war", sagte Jewgenija Timoschenko in der ZDF-Sendung Maybrit Illner. Ihre Mutter müsse liegen und könne sich zurzeit "praktisch gar nicht bewegen". Die Bitten der Familie, ihren Hungerstreik zu beenden, seien bisher erfolglos gewesen. Mittlerweile soll die Gefängnisleitung die Zwangsernährung vorbereiten, hieß es am Freitag in einem Bericht der Tageszeitung Segodna.

Die Familie hofft laut Jewgenija Timoschenko auf eine Behandlung der ehemaligen ukrainischen Regierungschefin durch unabhängige deutsche Ärzte. Heute reiste der Chef der Berliner Charité-Klinik, Karl Max Einhäupl, nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur erneut in die Ukraine, um Timoschenko im Krankenhaus zu besuchen. Einhäupl wird auch von deutschen Diplomaten begleitet. Die 51-Jährige leidet nach Angaben der deutschen Ärzte an einem Bandscheibenvorfall, aus dem sich chronische Schmerzen entwickelt haben.

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