Fall Edathy:Der lange Weg eines vertraulichen Briefes

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Anfang Februar informierte die Staatsanwaltschaft Bundestagspräsident Lammert per Brief über den Fall Sebastian Edathy. Sechs Tage vergingen, bis das Schreiben seinen Adressaten erreichte. Genau in diesen Tagen verschwand der SPD-Politiker. Ein Zufall?

Von Hans Leyendecker und Tanjev Schultz

Mit Razzien und Warnungen vor Razzien kannte sich Sebastian Edathy schon gut aus, bevor die Polizei vor seiner Tür stand. Zumindest in der Theorie. Als Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses musste er sich immer wieder mit den Auffälligkeiten bei Heimsuchungen von Verdächtigen durch die Staatsgewalt beschäftigen. Oft ging es dabei auch um den Verdacht des Verrats und irgendwelche Durchstechereien.

Im Januar 1998 war eine Razzia in Jena schiefgelaufen. Drei Neonazis tauchten damals unter, und die schreckliche Geschichte des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) nahm nach dem Desaster bei der Durchsuchung ihren Lauf.

Ermittlungen gegen SPD-Politiker
:Der Fall Edathy - eine Chronik

Alles begann mit einer Verhaftung in Kanada: Wie der SPD-Politiker Sebastian Edathy ins Visier der Ermittler geriet und warum weiterhin viele Fragen offen sind.

Verbindungsmann zu den Untergetauchten war der Neonazi Tino Brandt. Edathy und die anderen Abgeordneten des Ausschusses hörten eine erstaunliche Geschichte über Brandt, der auch V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes war. Sie ging so: Wann immer die Polizei bei Brandt anklopfte, hatte er seine Computer bereits fortgeschafft. Die Beamten soll er gern mit einem Grinsen im Gesicht empfangen haben. Brandt war, folgerten nicht nur die Ermittler, rechtzeitig gewarnt worden, eventuell vom Verfassungsschutz, der seine Quelle schützen wollte. Auf einem später gefundenen Tonband ist Brandt zu hören, wie er einem Kameraden stolz berichtete, er habe der Polizei "Computerattrappen" hingestellt und seinen PC in einem Schließfach versteckt. Edathy hat diese Passage aus dem Abhörprotokoll im Untersuchungsausschuss mit entrüstetem Tonfall vorgelesen. Das war 2013.

Strafverfolger fanden weniger als erwartet

Mittlerweile sieht sich der SPD-Politiker selbst dem Verdacht ausgesetzt, er könnte einen Tipp bekommen und seine Computer rechtzeitig vor Durchsuchungen beiseite geschafft haben. Wieder gibt Edathy sich entrüstet - diesmal allerdings über diesen Verdacht. Er weist ihn vehement zurück. "Hinweise auf bevorstehende Ermittlungsmaßnahmen lagen mir nicht vor", sagt er in einem kurzen, per E-Mail geführten Interview mit dem Magazin Spiegel.

Als Beamte am 10. und am 12. Februar Edathys Büros und Wohnräume durchsuchten, war die "Ausbeute" aus Sicht der Ermittler mager. Bei einem Anfangsverdacht wegen Besitzes von Kinderpornografie haben sie es vor allem auf Computer, Multimediaplayer, andere Datenträger und Notizzettel mit Passwörtern abgesehen, doch davon war weniger zu finden, als von den Strafverfolgern erwartet. "Die Auffindesituation legt nahe, dass dort möglicherweise einmal Computer vorhanden gewesen sind", behauptet der Leiter der Staatsanwaltschaft Hannover, Jörg Fröhlich. Der Satz nährte freilich Vermutungen, Edathy oder Vertraute könnten Computer rechtzeitig fortgeschafft haben.

Offenbar fand die Polizei auch Teile, die auf den ersten Blick für Reste einer zerstörten Festplatte zu halten sind. Der Staatsanwalt äußerte sich dazu noch sehr vorsichtig; die Auswertungen seien noch nicht abgeschlossen. Edathy betont, er habe stets nur legales Material gekauft.

Edathy sagt, er habe nichts verborgen

Es ist ein komplizierter Fall mit einer langen Vorgeschichte: Edathys Rechtsanwalt Christian Noll erkundigte sich seit Ende November 2013 bei deutschen Behörden, ob irgendwo Ermittlungen gegen seinen Mandanten vorbereitet wurden. Am 22. Januar schaute er bei der Staatsanwaltschaft vorbei, erzählte von den Filmen, die Edathy früher gekauft hatte, und dass es sich keinesfalls um kinderpornografisches Material handele. Die Behörde hielt sich bedeckt, wusste nun aber sicher, dass der Politiker zumindest eine Ahnung haben musste, dass ihm etwas bevorstehen könnte.

Die "kriminalistische Erfahrung lehrt", dass man bei Kunden, die legales Material bezogen hätten, auch inkriminiertes Material finden könne. So lautet der Standardsatz der Ermittler. Was ist aber mit dieser Erfahrung, wenn der potenziell Beschuldigte vom Verdacht etwas weiß und, theoretisch zumindest, das Material beiseite schaffen könnte? Und was sagt die Erfahrung, wenn der Verdächtige kooperieren möchte; welchen Sinn ergibt da noch eine Durchsuchung?

Ermittler erklären, Beschuldigte unterschätzten, wie viel Spezialisten selbst aus vermeintlich bereinigten Festplatten noch herausholen können - wenn sie ihrer habhaft werden.

Sogar professionell gelöschte Dateien könnten mit kriminalistischen Mitteln "zur Überraschung der jeweiligen Beschuldigten" wiederhergestellt werden. So steht es in einem Brief der Staatsanwaltschaft Hannover an Bundestagspräsident Norbert Lammert. Im Übrigen scheine es auch keineswegs sicher zu sein, dass es Herrn Edathy möglich wäre, seine gesamte E-Mail-Korrespondenz und seine Kontobewegungen komplett vor den Strafverfolgungsbehörden zu verbergen. Edathy sagt dazu, er habe nichts verborgen.

Der Brief an Lammert ging am 6. Februar als verschlossenes, vertrauliches Schreiben in die reguläre Post. Er soll dann seltsamerweise erst am 12. Februar in Lammerts Büro eingetroffen sein. In der Zwischenzeit legte Edathy am 7. Februar sein Mandat nieder - eine mindestens bemerkenswerte zeitliche Überschneidung. Durch den Sturz des früheren Innenministers Hans-Peter Friedrich (CSU) geriet in der vergangenen Woche zunächst der Oktober 2013 in den Fokus. Damals weihte der nun zurückgetretene Minister den SPD-Chef Sigmar Gabriel ein. Es gebe da einen Verdacht gegen Edathy, auch wenn die Schwelle zur Strafbarkeit nicht überschritten sei. Erfuhr Edathy auf irgendeinem Weg von dem Gemunkel in Berlin? Für diese heiß diskutierte These gibt es keinen Beleg, und Profis wie der Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestages, Wolfgang Bosbach (CDU), sind sich sicher, dass "sich da niemand melden wird: ich war's".

Auch dann, wenn es Indizien gibt, dass ein Beschuldigter gewarnt sein könnte, ist ein Geheimnisverrat meist nur schwer zu beweisen. Wo genau war das Leck? Oder hatte ein Beschuldigter einfach nur eine gute Intuition? Im November 2013 konnte Edathy aus Medienberichten wissen, dass die kanadische Versandfirma hochgenommen worden war, bei der auch er bestellt hatte. Doch der Blick richtet sich nun auch auf die andere, viel heiklere Phase: auf die Tage Anfang Februar 2014, kurz vor der Razzia. Wie kann es sein, dass Edathy just zu dem Zeitpunkt sein Mandat als Bundestagsabgeordneter niederlegte und anschließend von der Bildfläche verschwand, als die Ermittler gerade beschlossen hatten, richtig loszulegen?

Kreis der möglichen Informanten ist nicht klein

Von dem Brief an Lammert wussten angeblich nur der Leiter der Staatsanwaltschaft, dessen Vorzimmer, der zuständige Sachbearbeiter und die Pressesprecherin der Behörde. Allerdings ist mittlerweile bekannt, dass auch die Landeskriminalämter und der Polizeipräsident von Göttingen frühzeitig von möglichen Ermittlungen erfuhren, zudem der niedersächsische Innenminister und schließlich das Justizministerium in Hannover. Der Kreis derer, die vielleicht etwas zu viel geplaudert haben könnten, ist nicht eben klein.

Edathy selbst hat, nachdem bei den Durchsuchungen ein Reporter aufgetaucht war und vieles in den Medien landete, eine Anzeige wegen Verletzung von Dienstgeheimnissen gestellt. Die Staatsanwaltschaft zeigt sich "fassungslos", dass so viele, auch in Berlin, von einem Verdacht gegen den Politiker wussten. Edathys Anwalt Noll aber sagt, damit wolle die Staatsanwaltschaft nur von ihrem eigenen Verhalten ablenken. Dieses sei "rechtsstaatlich höchst fragwürdig". Am 5. November hatten die Ermittler den Fall übernommen. Sie gingen nach erster Einschätzung davon aus, dass strafrechtlich nichts gegen Edathy vorliege. Der Akte, sagt Noll, sei nicht zu entnehmen, dass die Strafverfolger sich überhaupt in den folgenden Monaten in einem Prüfvorgang mit den Filmen und Foto-Sets, die Grundlage des Anfangsverdachts waren, beschäftigt hätten.

Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft, die nun, als Ermittlungsmaterial an die Öffentlichkeit durchsickerte, eine Pressekonferenz abhielt, wirkt mindestens naiv. Aus Edathys Sicht ist es "ungeheuerlich". Vor der Presse wertete die Staatsanwaltschaft den Verdacht weit härter, als sie das in dem Schreiben an Lammert getan hatte.

Viele weitere Beschuldigte

Zu berücksichtigen ist allerdings auch: Außer Edathy gibt es noch 15 weitere Beschuldigte in Niedersachsen, gegen die zur gleichen Zeit ein Verfahren in Zusammenhang mit in Kanada bestellten Filmen eingeleitet worden ist. Dort war es ebenfalls notwendig, Diskretion zu wahren. Einige der Beschuldigten sollen Personen sein, die zuvor schon wegen Kinderpornografie oder sexuellen Missbrauchs von Kindern auffällig gworden waren und bei denen die Ermittler womöglich wirklich gute Gründe haben, genauer hinzusehen.

Immerhin geht es in solchen Fällen auch darum, abzuwägen zwischen dem Risiko, einen Beschuldigten zu Unrecht vorzuführen, und dem Schutz von Kindern. Diesen Schutz nehmen Staatsanwaltschaften heute ernster als noch vor wenigen Jahren.

Für die Strafverfolger hätte es zu einer schwierigen Situation führen können, wenn sie ausgerechnet bei Edathy auf Ermittlungen verzichtet hätten, während sie bei anderen Durchsuchungsbeschlüsse beantragt hätten. Das hätte ihnen, wäre es bekannt geworden, schnell den Vorwurf eintragen können, einen Prominenten schonender zu behandeln als andere. Nun aber gibt es genau den entgegengesetzten Vorwurf.

© SZ vom 17.02.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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