Fall Amri:Elefant wird zur Mücke

Dieselbe Behörde, aber zwei Meinungen: Details aus den Ermittlungsakten über Anis Amri zeigen, wie stark das LKA seine Einschätzung über den späteren Attentäter änderte.

Von Georg Mascolo und Ronen Steinke

Mal soll Anis Amri in ein Café gehen, dort einer Person "Dings in die Hand drücken, das Geld in die Hand nehmen, und fertig ist die Sache". Mal soll er 50 Euro von einem Mann kassieren und ihm einen Faustschlag versetzen. Mal geht es um eine "englische Gruppe, die Blaue haben will", mal um "graues Haar", "Gras" oder "Salz". Es sind konspirative Anweisungen für die Tage im späten Frühjahr 2016, in denen der spätere Terrorist vom Berliner Breitscheidplatz ins Milieu der organisierten Kriminalität abrutscht.

Noch ist offen, ob die Berliner Ermittlungsakten im Fall des Attentäters Anis Amri mit krimineller Energie manipuliert wurden. Die Kommissare des Landeskriminalamts (LKA), die deshalb im Verdacht stehen, sind noch nicht von der Staatsanwaltschaft befragt worden. Der Sonderermittler Bruno Jost verweist auf die Unschuldsvermutung. Liest man aber den Original-Abschlussvermerk des LKA vom 1. November 2016, dann wird deutlich, wie groß der Kontrast ist zu der abgeschwächten Fassung, die am 17. Januar im LKA angefertigt und, offenbar rückdatiert, zu den Akten gegeben wurde. Der Original-Vermerk vom 1. November, den Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR einsehen konnten, sollte von der abgeschwächten Fassung offenbar überdeckt werden. Von den 20 000 Seiten umfassenden Amri-Abhörprotokollen fasst der Original-Vermerk nur jene 73 Gespräche zusammen, die den Ermittlern am interessantesten erscheinen. Aber schon die erzählen in allen Details die Geschichte eines Dealer-Aufstiegs: wie Amri angeworben wird, wie er im Umfeld der Elektroclubs "Chalet" und "Watergate" dealt, wie er einmal aus Angst vor der Polizei seine Ware wegwirft, wie er sich über Konkurrenten ärgert und gegen diese vorgeht - und wie er schließlich sagt, sein Lieferant und Mentor verlange zu viel Provision, drei Euro; er werde sich fortan an einen anderen halten, der nur 1,80 verlangt.

Zwei von drei Namen mutmaßlicher Komplizen Amris wurden unterschlagen

Auf dieser Grundlage kommt die Kommissarin des Staatsschutz-Dezernats am 1. November zu der Einschätzung: "Aus hiesiger Sicht" sei "erwiesen", dass "Amri gemeinsam mit weiteren Beschuldigten dem sowohl gewerbs- als auch bandenmäßigen Handel mit Amphetaminen, Kokain, als auch Cannabis nachgeht". Zwar geht es bei Amris Drogengeschäften nur um kleine Summen, 150 oder 200 Euro. Aber: "Die Gewerbsmäßigkeit ergibt sich aus dem Umstand, dass Amri über keinerlei weitere Einkommensquelle verfügt und so seinen Lebensunterhalt komplett aus den Einnahmen aus dem Handel mit Betäubungsmitteln bestreitet."

Einen Haftbefehl gegen Amri beantragte die Ermittlerin trotzdem nicht. Dass sie damit womöglich Amris Anschlag am 19. Dezember verhindert hätte, konnte sie nicht wissen. Später wurde ihr Original-Vermerk vom 1. November abgeändert: Ein Oberkommissar ließ zwei von drei Namen von Drogen-Komplizen Amris aus und behauptete, man sehe bei Amri lediglich Anhaltspunkte für "Kleinsthandel". Gegen einen LKA-Ermittler läuft jetzt ein Strafverfahren wegen mutmaßlicher Strafvereitelung und Falschbeurkundung im Amt.

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