Süddeutsche Zeitung

Fabrizio Gatti zum Umgang mit Flüchtlingen:"Das ist nicht unser Europa"

Lesezeit: 4 min

Wie ein italienischer Wallraff gab sich Fabrizio Gatti einst als Flüchtling aus. Um zu erleben, was Afrikaner auf ihrem Weg nach Europa durchmachen. Nach dem Bootsunglück vor Lampedusa sammelt der Journalist Unterschriften, um die Mittelmeerinsel für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen. Ein Interview über Europas Moral und neue Ansätze in der Flüchtlingspolitik.

Von Johannes Kuhn

Fabrizio Gatti gilt als Chronist der Flüchtlingsströme und als italienischer Wallraff: Unter falscher Identität legte der renommierte Journalist zwischen 2003 und 2007 den Weg zurück, den viele Afrikaner nach Europa hinter sich bringen: durch die Sahara, auf dem Mittelmeer, im Flüchtlingslager Lampedusa. Seine Erfahrungen auf vollen Lastern in der Wüste, als illegaler Erntehelfer in Apulien oder als Insasse des Iniernierungslagers auf Lampedusa hat er in dem bedrückenden wie beeindruckenden Buch "Bilal: Als Illegaler auf dem Weg nach Europa" aufgeschrieben.

Nach der tödlichen Flüchtlingstragödie vor Lampedusa am 3. Oktober hat der 47-Jährige im Internet eine Petition aufgesetzt, in der er die italienische Mittelmeerinsel für den Friedensnobelpreis vorschlägt. Inzwischen haben sie mehr als 45.000 Menschen unterschrieben.

SZ.de: Sie haben Lampedusa für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Warum?

Fabrizio Gatti: Als ich vergangene Woche von dem neuen Bootsunglück hörte, habe ich mich an den Beginn meiner Recherchen für mein Buch "Bilal" erinnert. Meine erste Reise begann ziemlich genau vor zehn Jahren, doch eigentlich hat sich seitdem nichts geändert. Die Europäische Union hat 2012 den Friedensnobelpreis erhalten, doch fast alles, was sie im vergangenen Jahrzehnt in der Flüchtlingspolitik getan hat, war nutzlos. Die Petition für die Nominierung ist deshalb der Versuch, Stimmen zu sammeln, dass sich etwas ändert und die Politik endlich humanitäre Gesichtspunkte in den Mittelpunkt stellt.

Frankreichs Außenminister Laurent Fabius hat vor einigen Tagen gefordert, dass das "Mittelmeer kein großer Friedhof" sein darf. Das ist ein sehr humanitärer Ansatz - oder trauen Sie den Worten nicht?

Seit 1988 sind 19.000 Menschen auf dem Weg von Afrika nach Europa gestorben - und dabei sind nur die Ertrunkenen gezählt, von denen wir wissen. Der Friedhof in der Sahara, die viele Menschen auf dem Weg nach Europa durchqueren müssen, ist übrigens viel größer. Aber bei 19.000 Toten frage ich mich: Wenn das nicht genügt, um dieses Massaker zu stoppen, sollten wir dann nicht gleich die Menschenrechte aus unserer Verfassung streichen? Denn sie dort festzuschreiben, wäre dann eine Lüge. Doch die Realität zeigt: Was die Europäische Union in den vergangenen Jahren gemacht hat, besteht einzig aus Abschottung.

Folgen die Verantwortlichen damit nicht nur dem Willen der Bevölkerung? Viele Menschen haben Angst, dass die Folgen der Einwanderung den sozialen Frieden gefährden.

Einwanderung ist in der Geschichte immer wieder genutzt worden, um Einigkeit in Gesellschaften zu erreichen - nämlich, indem man das Fremde an ihr dämonisiert hat. Sehen Sie sich Italien an: In den fast 20 Jahren, in denen Berlusconi in irgendeiner Form an der Regierung beteiligt war, ist Fremdenfeindlichkeit zum politischen Mittel geworden. Es gibt hier einen breiten Konsens, gegen Einwanderung vorzugehen, es herrscht eine regelrechte Furcht vor ihr. Nur in der Praxis hat diese Politik doch überhaupt nichts geändert. Die Menschen in Italien haben Angst vor Einwanderung, die Migranten ertrinken vor der Küste. Deshalb ist es Zeit, die Ideologie gegen Pragmatismus einzutauschen.

Was bedeutet das konkret bei einem solch komplexen Problem?

Die Lösung ist sicher nicht, alle Ankommenden mit Hilfe von Polizei und Marine an den Grenzen zurückzuschicken und damit ihre Reisen noch teurer und gefährlicher zu machen. Ich habe mit vielen Migranten gesprochen. Einen Vater, der sogar seine Kinder mit auf eines dieser Boote nimmt, wird keine Polizeiaktion der Welt davon abhalten können, wieder und wieder die Einreise nach Europa zu versuchen.

Also reden wir von einer Legalisierung von Einwanderung?

Mir geht es nicht darum, die Grenzen zu öffnen und plötzlich Millionen Menschen hier aufzunehmen. Aber wir müssen doch ehrlich sein: Auf der anderen Seite des Mittelmeeres, an den Stränden Libyens, finden Sie keine Menschenrechtsorganisationen, sondern nur Schlepper. Wenn wir die Toten auf See nicht als Alltagsphänomen akzeptieren wollen, dann müssen wir einen humanitären Korridor eröffnen. Zumindest Menschen mit Verwandten in Europa, Kanada oder den Vereinigten Staaten sollten gefahrlos in diese Länder einreisen dürfen - unter der Voraussetzung, dass diese Verwandten sie aufnehmen. Dafür müssten wir aber die Dublin-Regeln ändern, die Asyl-Anträge nur noch in dem EU-Land zulassen, in dem die Menschen ankommen.

Damit wäre die Unterscheidung von humanitären und Wirtschaftsflüchtlingen hinfällig.

Die 500 Menschen auf dem Boot, das vergangene Woche gesunken ist, waren zum großen Teil aus Eritrea. Waren sie nun Wirtschaftsflüchtlinge? Nein, sie lebten in einem autoritären Staat und brauchten Schutz. Deutschland und Italien haben übrigens gute Beziehungen zu Eritrea. Warum unterstützen europäische Länder das Regime, aus dem dann so viele Menschen fliehen müssen? Auch das gehört zu einer guten Flüchtlingspolitik: zu verstehen, dass die Welt im Süden eine andere geworden ist. Es gibt keine Diktatoren wie den Libyer Gaddafi und in Tunesien Ben Ali mehr, die Menschen aus Afrika von der Festung Europa abhalten.

Sie sprangen 2005 selbst vor Lampedusa ins Wasser, um, als kurdischer Flüchtling getarnt, über die Verhältnisse aus dem Auffanglager zu berichten. Was hat sich seitdem dort verändert?

Das Lager ist noch voller, weil in den vergangenen Jahren so viele Neuankömmlinge eingetroffen sind und alle Kapazitäten überschritten wurden. Allerdings haben sich auch Dinge verbessert - nach der Veröffentlichung meines Buches, wo ich von Übergriffen durch das italienische Sicherheitspersonal berichtete, erhielten Gruppen wie Ärzte ohne Grenzen und das Rote Kreuz Zugang. Es gibt jetzt Kontrollen. Das ist aber nicht in allen Internierungslagern so.

Wo zum Beispiel nicht?

Auf Sizilien gibt es ein Lager, das sich im Zollbereich des Hafens befindet. Kein Journalist kommt hinein. Es gibt Berichte über Ausschreitungen und Übergriffe durch das Sicherheitspersonal. Zwei Parlamentarier haben erzählt, dass die Insassen Valium erhalten, damit sie in der Nacht ruhig sind. Hohe Zäune, Internierungslager, Tabletten zur Ruhigstellung: Das ist nicht unser Europa.

Von welchem Europa sollen Flüchtlinge aus Afrika in Zukunft einmal erzählen?

Vielleicht sollten wir die Menschen besser selber fragen. Was ich mir wünschen würde: Von einem Ort, an dem sie als Bürger leben können. Einem Kontinent, von dem aus sie wieder in ihre Heimat zurückkehren können, weil die Probleme in ihren eigenen Ländern inzwischen überwunden worden sind. Aber ich weiß natürlich: Es dauert noch, bis es so weit ist.

Und bis dahin?

Sollten wir zwei Worte beherzigen, an die uns einst der italienische Aktivist Vittorio Arrigoni erinnert hat: Bleibt menschlich. Die Probleme sind groß, aber Polizei, Militär und Angst sind nicht die Lösung. Wir müssen uns den Herausforderungen stellen und dabei human bleiben.

Linktipp: In dieser Woche beleuchtet die Redaktion von Süddeutsche.de das Thema "Diskriminierung im Alltag". Alle Texte dazu finden Sie auf unserer Themenseite.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1790196
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
Süddeutsche.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.