Europäische Union:EU geht gegen Deutschland vor

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Eine Passantin geht vor dem Schriftzug am Berlaymont-Gebäude entlang, dem Sitz der Europäischen Kommission in Brüssel. In der Europäischen Union hat EU-Recht Vorrang vor nationalem Recht. (Foto: Aaron Chown/dpa)

Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Anleihekäufen der EZB bringt aus Sicht der Kommission die europäische Rechtsgemeinschaft in Gefahr. Die Antwort ist ein Vertragsverletzungsverfahren.

Von Björn Finke, Brüssel

Ein umstrittenes Urteil des Bundesverfassungsgerichts beschert Deutschland nun ein Vertragsverletzungsverfahren der EU. Die EU-Kommission werde die Einleitung dieses Verfahrens am Mittwoch beschließen, erfuhr die Süddeutsche Zeitung aus dem Umfeld der Brüsseler Behörde. Der Anlass ist ein gutes Jahr her: Im Mai 2020 beanstandete das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank und stellte sich damit erstmals gegen ein vorheriges Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Doch in der Europäischen Union hat EU-Recht Vorrang vor nationalem Recht.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen brachte bereits kurz nach dem Richterspruch ein Vertragsverletzungsverfahren ins Spiel. In der Behörde heißt es, man habe erst noch die Entscheidung Karlsruhes über Vollstreckungsanträge für dieses Gerichtsurteil abwarten wollen. Dieser Beschluss fiel Ende April - und hier hätten die Richter die Gelegenheit versäumt, klarzustellen, dass EU-Recht Vorrang habe, weswegen sich die Kommission nun für den Start des Vertragsverletzungsverfahrens entschieden habe, sagt ein Insider. Das Bundesverfassungsgericht argumentiert, dass ein früheres Urteil des Europäischen Gerichtshofs "ultra vires" gewesen sei, also außerhalb der Kompetenz der Luxemburger Richter gelegen habe, und daher in Deutschland nicht anwendbar sei. An dieser Auffassung halten die Karlsruher Richter fest.

Die Kommission wird die Bundesregierung jetzt in einem Brief um eine Klarstellung bitten. Werden die Bedenken, dass EU-Recht gebrochen wird, nicht ausgeräumt, kann die Kommission Deutschland in dem mehrstufigen Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof verklagen. Würde die Bundesregierung vor Gericht verlieren, den Missstand aber trotzdem nicht abstellen, drohen Strafzahlungen. Die Kommission betont in einer internen Handreichung zu dem Verfahren, sie wolle keine Verfassungsänderung erzwingen, sondern lediglich durchsetzen, dass der Rechtsverstoß beendet werde - wie auch immer.

Polen und Ungarn könnten dem Vorbild folgen

Es ist nicht das erste Mal, dass Brüssel wegen eines nationalen Gerichtsurteils ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet: 2014 ging die Kommission so gegen eine Entscheidung des obersten französischen Verwaltungsgerichts vor. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird in dem Kommissionspapier als "gefährlicher Präzedenzfall" bezeichnet: Würde das Beispiel Schule machen, könnte Karlsruhe auch andere Urteile des Europäischen Gerichtshofs für wirkungslos erklären.

Zudem fürchtet die Kommission, dass andere EU-Regierungen und ihre nationalen Gerichte dem Karlsruher Vorbild folgen könnten und ebenfalls unliebsame Urteile von EU-Gerichten für nicht anwendbar erklären - "insbesondere dort, wo das Rechtsstaatsprinzip bereits geschwächt ist", heißt es. Damit dürften Ungarn und Polen gemeint sein: Gegen die zwei Länder laufen EU-Verfahren wegen Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit. Tatsächlich haben Vertreter der polnischen Regierung und Justiz schon mehrmals moniert, dass Urteile des Europäischen Gerichtshofs angeblich die polnische Verfassung brächen.

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