Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen:Eine sieben Jahre alte, tödliche Fracht

Nach der schweren Explosion in Beirut: Frachter Rhosus

Brachte die unheilvolle Ladung nach Beirut: der Frachter Rhosus - im Bild vor Istanbul auf dem Weg ins Mittelmeer.

(Foto: Hasenpusch/dpa)

Schon im Herbst 2013 war klar, dass eine potenzielle Bombe in Beirut angelandet war. Hafenbehörde und Zoll drängten immer wieder darauf, die gefährliche Fracht loszuwerden. Doch nichts geschah.

Von Paul-Anton Krüger und Frank Nienhuysen

Die MV Rhosus ist 86 Meter lang und zwölf Meter breit, vom Deck bis zum Kiel misst das 1986 in Japan für eine Fischereigesellschaft gebaute Frachtschiff sechs Meter. Das vermittelt eine ungefähre Größenvorstellung von der Sprengladung, die Beirut verwüstet hat. Denn das Unheil in Form von 2750 Tonnen Ammoniumnitrat war an Bord dieses Schiffes am 23. September 2013 im Hafen der libanesischen Hauptstadt angelandet. Inzwischen lässt sich zumindest in groben Zügen rekonstruieren, wie es dazu kommen konnte, dass die ursprünglich für die Fábrica de Explosivos de Moçambique bestimmte tödliche Fracht fast sieben Jahre bis zu der verheerenden Detonation am Dienstagnachmittag ohne die nötigen Sicherheitsvorkehrungen im Hafen blieb, zuletzt im Lagerhaus Nummer zwölf.

Am Heck der Rhosus war die blau-gelb-rote Trikolore der Republik Moldau aufgezogen, als sie im georgischen Schwarzmeerhafen Batumi beladen wurde. Sie nahm dann mit einer zehnköpfigen Mannschaft Kurs Richtung Mittelmeer, von wo sie durch den Suezkanal und das Rote Meer ihren Bestimmungsort im Südosten Afrikas anlaufen sollte. Doch der Frachter kam dort nie an, aus mehreren Gründen. Dass er ausgerechnet Beirut anlaufen musste, lag laut dem Kapitän Boris Prokoschew am damals auf Zypern residierenden russischen Eigner, einem Geschäftsmann namens Igor Gretschuschkin, der angeblich nicht genug Geld hatte.

Der Eigner konnte die Gebühren für den Suez-Kanal nicht aufbringen

Dieser habe ihn angerufen, dass er die Durchfahrtsgebühren für den Suezkanal nicht aufbringen könne, wie der heute 70-Jährige der New York Times sagte. Allerdings habe Gretschuschkin zuvor eine Million Dollar für die Passage kassiert. In Libanon habe das Schiff als zusätzliche Fracht Maschinen aufnehmen und mit dem Erlös die Durchfahrt durch den Suezkanal bezahlen sollen. Doch die Maschinen passten nicht mehr in den Laderaum. Zu allem Ärger kam noch eine Inspektion durch die Hafenbehörde hinzu, die das Schiff wegen gravierender technischer Mängel festsetzte.

Der Kapitän und drei weitere Besatzungsmitglieder wurden elf Monate nicht von Bord gelassen - die libanesischen Behörden wollten die Rhosus wieder loswerden und vor allem die gefährliche Fracht. Aber der Eigner gab das Schiff auf, ebenso die Eigentümer die Ladung. Gretschuschkin bezahlte weder die Heuer noch Hafengebühren. Bald musste die Mannschaft Schiffsdiesel verkaufen, weil die Vorräte an Bord zur Neige gingen. Verschiedene Gläubiger erwirkten vor Gericht drei Arrestanordnungen für das Schiff, wie eine Beiruter Anwaltskanzlei 2015 mitteilte.

Gretschuschkin wies nach der Explosion jede Verantwortung zurück. Libanons Behörden hätten die Weiterfahrt untersagt und die Ladung beschlagnahmt, sagte er der Zeitung Iswestija. Begründet worden sei dies mit fehlenden Dokumenten und Bedenken wegen der Transportbedingungen des gefährlichen Stoffes. Weil das Schiff nicht habe weiterfahren dürfen, sei sein Geschäft lahmgelegt gewesen. Er habe Strafe zahlen müssen und sei deshalb pleite gegangen.

Auch Kapitän Prokoschew sieht die Verantwortung für die Katastrophe bei den libanesischen Behörden. "Sie sind selber schuld", sagte er. "Es war nicht nötig, das Schiff festzusetzen. Sie hätten es auch schneller loswerden können." Er fuhr nicht weiter, weil die Behörden darauf bestanden hätten, dass er die Hafensteuer bezahle, sagt er. Außerdem: "Ammoniumnitrat ist ein Düngemittel, sie hätten es auf die Felder streuen und unterpflügen können. Wenn niemand nach der Ladung fragt, gehört sie niemandem", sagte Prokoschew.

Anwälte klagten damals die restliche Crew nach elf Monaten auf dem Schiff heraus. Den Antrag bei einem Beiruter Gericht begründeten sie mit der rechtswidrigen Beschränkung der Bewegungsfreiheit. Betont habe man aber auch die "unmittelbare Gefahr", der die Besatzung ausgesetzt sei angesichts der "gefährlichen Natur der Ladung, die sich weiter an Bord befand". Der Richter gab dem statt - die auf der Hand liegende Schlussfolgerung, dass nicht nur die Mannschaft in Gefahr schwebte, sondern eine ganze Stadt mit ihren Millionen Bewohnern, blieb unbeachtet. Das in Rostock ansässige Schifffahrtsportal FleetMon.com schrieb damals schon von einer "schwimmenden Bombe", auf dem die Crew als Geiseln gehalten werde.

Den Zollbehörden im Hafen war durchaus klar, dass sie auf einem gewaltigen Sprengsatz saßen. Schon 2014 wandten sie sich an ein Gericht mit der Bitte um Anweisungen, wie man das Ammoniumnitrat loswerden könne. Das geht aus Dokumenten hervor, die der Parlamentsabgeordnete Salim Aoun im Internet veröffentlicht hat. "Angesichts der ernsthaften Gefahr, die von der weiteren Lagerung dieser Ladung in dem Lagerhaus in ungeeignetem Klima ausgeht", wiederholte der Chef des libanesischen Zolls im Mai 2016 seine Bitte, die sofortige Ausfuhr des Stoffes anzuweisen. Insgesamt mindestens sieben Versuche unternahm der Zoll, das Ammoniumnitrat aus dem Hafen zu entfernen. Er schlug vor, es der libanesischen Armee zu übergeben oder an einen privaten Sprengstoffhersteller in Libanon zu verkaufen. Nichts davon geschah, es ist nicht einmal klar, ob die Justiz je auf diese Schreiben reagiert hat.

Inspekteure sollen noch im Frühjahr vor dem Stoff im Hafen gewarnt haben

2015 wurde das Ammoniumnitrat zumindest auf Anordnung eines Gerichts vom Schiff geholt und in das Lagerhaus gebracht. Der Manager des Hafens von Beirut, Hassan Koraytem, sagte libanesischen Medien, ihm sei klar gewesen, dass das Ammoniumnitrat gefährlich war - "wenn auch nicht in diesem Ausmaß". Neben dem Zoll hätten auch die Sicherheitsbehörden mehrere Vorstöße bei der Justiz gemacht, das Material aus dem Hafen zu entfernen - aber nichts sei passiert. Es habe geheißen, das Ammoniumnitrat solle versteigert werden. "Aber die Auktion hat nie stattgefunden, die Justiz hat nie gehandelt", sagte er. Erst vor sechs Monaten sei die Lagerhalle erneut inspiziert worden, berichten libanesische Medien weiter unter Berufung auf Hafenmitarbeiter. Das Team habe gewarnt, das Ammoniumnitrat könne "ganz Beirut in die Luft sprengen".

Nach einer Dringlichkeitssitzung des Obersten Nationalen Sicherheitsrates ordnete die Regierung Mittwochabend Hausarrest für alle Mitarbeiter an, die mit der Lagerung und Bewachung des Stoffes und dem Schriftverkehr dazu seit 2014 befasst waren. Warum die Justiz den flehentlichen Bitten der anderen Behörden nicht nachgekommen ist, blieb offen. Eine Stellungnahme der Justiz dazu gab es zunächst nicht. In der Sitzung, so berichten es libanesische Medien unter Berufung auf Teilnehmer, sei bestätigt worden, dass der Brand, welcher der verheerenden Detonation vorangegangen war, wahrscheinlich durch Schweißarbeiten ausgelöst worden ist.

Französische Experten sollen jetzt helfen aufzuklären, was genau sich in der Lagerhalle zugetragen hat und wie die Detonation ausgelöst wurde. Das kündigte der libanesische Generalstaatsanwalt Ghassan Oueidat an. Ammoniumnitrat explodiert nur, wenn es eine Zündquelle gibt, und diese muss eine recht große Intensität erreichen. Die sieben Spezialisten aus Frankreich hatten an der Aufklärung eines Unglücks in Toulouse mitgewirkt, wo 2001 in einer Düngerfabrik Hunderte Tonnen des Stoffes explodiert waren; damals kamen 29 Menschen ums Leben. In Libanon indes fürchte viele, dass ein paar Beamte bestraft werden, die politische Verantwortung aber und die Hintergründe des Versagens ungeklärt bleiben.

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