Süddeutsche Zeitung

Ampelkoalition:Der Streit ums Infektionsschutzgesetz geht weiter

Mancher hatte sich vom Gutachten zur Corona-Politik klare Hinweise erhofft, welche Vorschriften sinnvoll sind - vergeblich. Jetzt muss wieder die Politik aushandeln, was das Infektionsschutzgesetz künftig ermöglichen soll.

Von Paul-Anton Krüger, Berlin

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat sich bewusst gelassen gegeben in letzter Zeit mit Blick auf den Streit über die nötigen Corona-Maßnahmen für den Herbst. "Das Drama, auf welches jetzt alle warten, wird ausbleiben", prophezeite der SPD-Politiker. Man werde einen guten Bericht des Sachverständigenrates zur Bewertung der Pandemiepolitik in Deutschland bekommen und besser für den Winter gerüstet sein, "als der eine oder andere jetzt vermutet".

Der eine oder die andere, das wäre zum Beispiel der gesundheitspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Bundestag, Janosch Dahmen, der seit Wochen mahnt, das Parlament müsse noch vor der Sommerpause einsteigen in die Debatte, wie man sich für den Herbst wappne. Einen "schnell und flexibel einsetzbaren Instrumentenkasten" verlangte er, der im Infektionsschutzgesetz festgeschrieben werden muss. Ähnliches fordern die Länder. Und Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt, ebenfalls eine Grüne, sieht schon eine Situation, "in der hektisch was auf den Tisch gelegt wird" und dann mit sehr kurzer Frist Regelungen umgesetzt werden müssten.

Die Anwürfe richten sich vor allem gegen den Koalitionspartner von der FDP. Die Liberalen sind bekanntermaßen skeptisch bei vielen der Einschränkungen, die vor Corona schützen sollen. "Es wäre zwecklos, Maßnahmen zu erwägen, deren Wirksamkeit noch ungeklärt ist", sagte jüngst etwa Fraktionschef Christian Dürr. Parteichef Christian Lindner hat die grobe Linie schon vorgezeichnet: Pauschale Freiheitseinschränkungen solle es nicht mehr geben - ein Mantra, das andere Parteigranden seither wiederholen.

Justizminister Marco Buschmann zeigte sich befremdet über das Drängen und Klagen der Grünen. Schließlich hätten sie das Infektionsschutzgesetz ja mit beschlossen, das die Evaluierung durch die Sachverständigen vorsieht - und damit letztlich auch den Terminplan vorgibt. In der Sommerpause werde man mit den Ländern "beraten, was zu tun ist", hat der Justizminister angekündigt. Das habe die Bundesregierung auch mit der Ministerpräsidentenkonferenz besprochen. "Warum jetzt einige meinen, dieser Fahrplan sei nichts mehr wert, das verstehe ich nicht, das ist Aufmerksamkeitshascherei", keilte er gegen die Drängler.

Wenn allerdings jemand auf eindeutige Aussagen in dem Bericht der Sachverständigen gehofft hatte, auf klare Vorgaben oder eine befriedende Wirkung in der Diskussion über die Corona-Maßnahmen, dürfte sich Enttäuschung breitmachen. Die meisten der getroffenen Maßnahmen "entziehen sich einer klaren Kategorisierung in ,richtig' oder ,falsch'", heißt es darin. Man habe versucht, den Graubereich zwischen "wirksam" und "unwirksam" einzuengen und damit den Entscheidungsträgern mögliche Abwägungen zu vereinfachen, könne in vielen Bereichen aber keine klaren Aussagen treffen.

So bleibt es der Politik überlassen, zu entscheiden und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu bewerten. Und da sind jetzt schon unterschiedliche Akzente zu erkennen. Mit Justizminister Buschmann habe er am Nachmittag schon eineinhalb Stunden "in guter Atmosphäre und sehr konstruktiv" ein Gespräch geführt, sagt Lauterbach, als er in Berlin die Expertise entgegennimmt. Das Gutachten sei eine "wichtige Bereicherung" und "bedeutsam" für die Beratungen, aber auch nicht die einzige Perspektive.

Denn, das schickt Lauterbach voran, "wir werden im Herbst eine schwere Welle zu bearbeiten haben". Deswegen werde man die Gespräche intensiv fortsetzen und hoffentlich zu einem guten Kompromiss kommen. "Wir werden gut vorbereitet sein", verspricht er und verweist auf Kabinettsbeschlüsse zu einer weiteren Impfkampagne, Schutzmaßnahmen für vulnerable Gruppen und ein Pandemieradar, das tagesaktuelle Daten zu Auslastung der Krankenhäuser liefern soll und mit einem Abwasser-Monitoring Frühwarnindikatoren für das Infektionsgeschehen.

Zu klären sei etwa die Frage, wo Masken zu tragen sind, bei welchen Kriterien das der Fall sein soll, wo Zugangsbegrenzungen notwendig sein können. Die Bürger könnten erwarten, dass die Bundesregierung gut vorbereitet sei, auch auf gefährlichere Szenarien. Auch die Sommerwelle werde sich nicht von allein beenden, sagt Lauterbach. Die Bundesregierung arbeite jetzt in "strengster Vertraulichkeit" an den Maßnahmen. Aber notwendig sei, "dass das komplette Instrumentarium verfügbar ist". Das hört sich eher an, als wolle sich der Gesundheitsminister möglichst große Handlungsspielräume bewahren.

Justizminister Buschmann dagegen sieht die Kritik der FDP an weitreichenden Grundrechtseinschränkungen durch das Gutachten bestätigt und auch daran, dass diese von der Exekutive verhängt werden konnten. Es müsse künftig eine genaue Abwägung von Kosten und Nutzen geben, in die auch psychosoziale Folgen einbezogen werden, etwa von Schulschließungen. Aus der empirischen Evidenz und der Frage nach der Verhältnismäßigkeit könne man "schon einige Schlussfolgerungen ziehen, was den Instrumentenkasten angeht", sagte er, sieht sich darin aber einig mit Lauterbach.

Er könne sicher sagen, dass "Lockdowns, Schulschließungen und Ausgangssperren nicht verhältnismäßig sind", Impfungen dagegen ein ganz wichtiges Instrument, um Deutschland wintersicher zu machen, sagt Buschmann. Masken in Innenräumen würden aber eine Rolle spielen. Nach der Sommerpause bleiben dem Bundestag zwei Sitzungswochen, um die Änderungen festzuzurren, sonst läuft am 23. September die geltende Regelung aus. Das, so fürchten manche in der Koalition, gibt den Liberalen einen langen Hebel in die Hand. Neuer Krach in der Ampel wäre wohl die Folge.

Auch die Länder wollen deutlich mehr, als Buschmann ihnen ohne Widerstand zugestehen dürfte: Zugangsbeschränkungen, die Vorlage von Immunitäts- und Testnachweisen, Personenobergrenzen. Das alles müsse im Infektionsschutzgesetz möglich sein, heißt es in einer einstimmig angenommenen Stellungnahme der 16 Gesundheitsminister. Kapazitätsbeschränkungen oder Veranstaltungsverbote sollten zwar vermieden werden. Die Länder wollen sie im Worst-Case-Szenario bei einer drohenden Überlastung des Gesundheitswesens aber anordnen können. Das hört sich nach einigem Diskussionsbedarf an. Und ein bisschen auch nach Drama.

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