Süddeutsche Zeitung

Expertenbericht zur Judenfeindlichkeit:Antisemitismus in Deutschland weitverbreitet

Die Bundesregierung hat den ersten Antisemitismusbericht eines unabhängigen Expertengremiums vorgelegt - das Ergebnis ist alarmierend: Etwa ein Fünftel aller Bundesbürger sollen demnach latent antisemitisch sein. Und inzwischen spiele dabei das Internet eine besondere Rolle.

Judenfeindliche Einstellungen sind nach Einschätzung von Experten in "erheblichem Umfang" bis in die Mitte der deutschen Gesellschaft hinein verankert: Bei etwa einem Fünftel der Bevölkerung gebe es einen latenten Antisemitismus. Zu diesem Ergebnis kommt der am Montag in Berlin vorgestellte Antisemitismusbericht, den ein unabhängiges Expertengremium zum ersten Mal im Auftrag des Bundestages erstellte.

Wenig überraschend ist die Erkenntnis, dass vor allem von Rechtsextremisten Antisemitismus verbreitet wird - und dort nach wie vor ein bedeutendes ideologisches Bindeglied ist. "Mehr als 90 Prozent der antisemitischen Straftaten werden von Tätern begangen, die diesem Spektrum zuzuordnen sind", sagte der Historiker Peter Longerich. Antisemitismus sei bei Rechtsextremisten - trotz modernem Gewand - noch immer ein "konstitutiver Bestandteil der Ideologie". Auch wenig überraschend ist seine Feststellung, dass dies für den Linksextremismus nicht gelte. Gleichwohl existierten bei einzelnen Personen dieses Lagers antisemitische Tendenzen, die häufig als Israelkritik verbrämt würden.

Als neuer Träger von Antisemitismus erweist sich dem Bericht zufolge mittlerweile auch der Islamismus. Im Zentrum der antisemitischen Agenden islamistischer Organisationen stehe vor allem, das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen. Wie stark der Antisemitismus allerdings auch in der muslimischen Bevölkerung verankert sei, müsse noch untersucht werden.

Tiefverwurzelte Klischees

Die antisemitischen Einstellungen basierten auf weitverbreiteten Vorurteilen und tiefverwurzelten Klischees, beziehungsweise auf schlichtem Unwissen über Juden und Judentum, heißt es in dem Bericht. Angesichts moderner Kommunikationswege wie dem Internet sei die Verbreitung dieses Gedankengutes kaum zu unterbinden, sagte Longerich. Dadurch gerate die weitgehende Tabuisierung des Antisemitismus in Gefahr, wie sie bisher Konsens in der deutschen Öffentlichkeit gewesen sei.

So seien beispielsweise rassistische, rechtsextreme und antisemitische Parolen auch weiterhin auf deutschen Fußballplätzen an der Tagesordnung. Betroffen seien etwa jüdische Fußballvereine. "Sätze wie 'Juden gehören in die Gaskammer', 'Auschwitz ist wieder da' und 'Synagogen müssen brennen' seien bei Wettkämpfen in der Regionalliga keine Seltenheit. In Schulen gehöre das Schimpfwort "Jude" vielerorts schon fast zum Allgemeingut.

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) warnte bei der Vorstellung des Berichts davor, sich mit dem Antisemitismus nur im Zuge spektakulärer Vorfälle zu beschäftigen: "Der Antisemitismus ist ein dauerhaftes Phänomen."

Die Wissenschaftler forderten die Politik auf, entschlossen Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die Wissenschaftlerin Juliane Wetzel kritisierte: "Eine umfassende Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland existiert nicht." Der Antisemitismus lasse sich aber nur langfristig und mit nachhaltigen Maßnahmen angehen. Die bisherigen Projekte liefen uneinheitlich und unkoordiniert. "Sie gehen von unterschiedlichen Vorstellungen aus, was unter Antisemitismus zu verstehen ist und wie er zu bekämpfen ist." Ein großes Problem sei, dass viele Projekte nur zeitlich befristete staatliche Förderungen erhielten.

Nach einem entsprechenden Bundestagsbeschluss im Jahr 2008 zum 70. Jahrestag der November-Pogromnacht hatte die Bundesregierung 2009 den Expertenkreis eingesetzt, um verstärkt gegen Antisemitismus vorzugehen. Das Gremium soll regelmäßig Berichte vorlegen. Für den ersten Bericht werteten die Wissenschaftler unterschiedliche Untersuchungen aus, die auf Meinungsumfragen basieren.

Bei der Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der Bevölkerung nimmt Deutschland dem Bericht zufolge im europaweiten Vergleich einen Mittelplatz ein. Dies hänge auch damit zusammen, dass es in einigen Ländern wie Polen, Ungarn und Portugal zum Teil extrem hohe Antisemitismus-Werte gebe.

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