Süddeutsche Zeitung

EXKLUSIV:Behörden holen erstmals Kind von IS-Kämpfern nach Deutschland

  • Die Mutter des Kindes ist eine 30-Jährige aus Hessen. Sie reiste zwei Mal freiwillig zum IS und gilt als überzeugte Islamistin.
  • Sein Vater, Mitglied der Frankfurter Salafisten-Szene, soll als Sanitäter beim IS gearbeitet haben.
  • Der Junge soll in Zukunft bei seinen Großeltern in Deutschland aufwachsen.

Von Volkmar Kabisch, Georg Mascolo und Amir Musawy, Erbil

Durch das Tor des Frauengefängnisses in der Hundertsten Straße in Erbil tritt ein Mann, das Kind auf seinem Arm klammert sich ängstlich an ihn. Eine Diplomatin des deutschen Generalkonsulats ist bei ihnen, ein Wagen der Vertretung wartet bereits. Mann und Kind sollen den Irak so schnell wie möglich verlassen.

Das Kind ist 14 Monate alt, ein Junge, geboren in Tal Afar, einer kleinen Stadt nahe Mossul. Lange war vermutlich eine Geburtsurkunde des sogenannten "Islamischen Staates" das einzige Dokument seiner Existenz. Denn zur Welt kam er mitten im Herrschaftsgebiet des IS. Seine Mutter ist Sibel H., die 30-Jährige aus Hessen reiste zwei Mal freiwillig zum IS und gilt als überzeugte Islamistin.

Auf ihrem Handy fanden deutsche Behörden ein Video, auf dem ihr erster und inzwischen toter Mann dabei zu sehen ist, wie er eine Kalaschnikow abfeuert. Es ist der Satz "Merkel, du bist die Nächste" zu hören. Ihr zweiter Mann sitzt ebenfalls in Erbil in Haft. Deniz B. stammt aus der Frankfurter Salafisten-Szene. Er ist der Vater des kleinen Jungen und soll beim IS als Sanitäter gearbeitet haben.

Wie viele ausländische Kinder noch im IS-Gebiet sind, weiß keiner genau

Abgeholt wird das Kind an diesem milden Januartag von seinem Großvater, der sich monatelang um diesen Moment bemüht hat. Eine aufwendige Prozedur, eine Reise, bei der ihn Reporter von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR begleiteten. Mithilfe von Bluttests musste die Abstammung des Jungen nachgewiesen werden, eine Rechnung gab es auch für die Passfotos, die nun in dem ersten deutschen Pass kleben, den der Junge besitzt. Später werden bei den irakischen Behörden noch einmal rund 400 Dollar Strafe fällig. Nach irakischem Recht ist der Junge, obwohl erst im Irak geboren, illegal ins Land gekommen. Weil schließlich auch seine Eltern illegal eingereist waren.

Der Großvater wirkt erleichtert, als er mit seinem Enkel zum Flughafen fährt: "Was die Eltern gemacht haben, da können die Kinder ja nichts dafür." Er bittet darum, seinen Namen nicht zu nennen. Auch das Auswärtige Amt dringt auf strikte Vertraulichkeit, obwohl die Aktion doch als diplomatischer Erfolg gilt. Zum ersten Mal und nach langen Verhandlungen wurde ein deutsches Kind aus dem Irak geholt. Aber wie viele es noch sind, ist unklar.

Man weiß nicht genau, wie viele mit ihren Eltern ausreisten, wie viele dort in Kämpfen starben und wie viele Kinder geboren wurden. Man geht von einer dreistelligen Zahl aus, die meisten noch Babys oder sehr jung. Sicher ist nur, dass die Zahlen fast jeden Tag steigen: Allein die Berliner Beratungsstelle Hayat betreut inzwischen 25 Minderjährige, die in Syrien und im Irak sind.

Sicherheitsbehörden warnen vor Risiken, die von den Kindern ausgehen könnten

Die Entscheidung, die Kinder nach Hause zu holen, wird in der Bundesregierung mit humanitären Erwägungen und der Schutzpflicht für die eigenen Staatsbürger begründet. Zudem könnten die Kinder nichts für den Irrsinn ihrer Eltern und seien entweder in jungen Jahren dorthin verschleppt oder dort geboren worden.

Die UN drängen, die Kinder dürften nicht vergessen oder nun staatenlos werden. Oder aber mit den Eltern zusammen inhaftiert bleiben. Auch die irakische Regierung hat signalisiert, dass sie nach einer Lösung sucht und die Kinder nicht weiter zusammen mit ihren Eltern eingesperrt wissen will. Irakische Offizielle bieten den inhaftierten IS-Kämpfern zwei Möglichkeiten an: Kinder, die älter als drei Jahre sind, können nach der Verurteilung ihrer Eltern in ein Kinderheim im Irak überstellt werden - oder zu ihren Familien in die Heimatländer ausgeflogen werden. Für sehr junge Kinder kommt auch eine sofortige Ausreise infrage.

Mancher in den deutschen Sicherheitsbehörden warnt vor den Risiken, die von solchen Kindern ausgehen könnten: Erst in dieser Woche sagte der Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen in einem Interview mit der Agentur Reuters, die Kinder könnten "gehirngewaschen" sein und den Auftrag haben, Anschläge zu begehen. "Man muss auch in Betracht ziehen, dass es sich bei den Kindern um lebende Zeitbomben handeln könnte."

Diese Sichtweise ist in den Sicherheitsbehörden und bei den für Deradikalisierung zuständigen Stellen umstritten. Schließlich seien die meisten Kinder noch sehr klein, sie bräuchten in Deutschland psychologische Betreuung, und man müsse sie sicher im Auge behalten. Claudia Dantschke, die Leiterin von Hayat, mahnt, es fehle an Personal und vor allem an ausreichender Erfahrung im Umgang mit solchen Kindern. Es sei eine echte Herausforderung, aber: "Ich finde es fatal, die Angst zu schüren, als ob da kleine Monster zurückkommen."

Zumindest an der Einstellung vieler Eltern besteht wenig Zweifel: Die Kinder tragen Namen wie "Schwert" oder "Soldat Gottes" oder "Löwe des Islam". Aber wo sind die Kinder?

Der Opa sagt: "Das Kind gehört nicht ins Gefängnis, sondern in ein normales Leben."

Nach langen Verhandlungen stimmte die irakische Regierung vergangene Woche zu, dass Reporter von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR sich selbst ein Bild von der Lage machen können. Nicht in den Gefängnissen in Bagdad oder den Gefangenenlagern, sondern im Gerichtsgebäude der irakischen Hauptstadt soll das Treffen stattfinden. Auf den Gängen warten gefesselte IS-Gefangene auf ihre Vernehmung, schwer bewaffnetes Wachpersonal steht rauchend daneben.

Es ist der Gebäudekomplex, in dem auch das Todesurteil gegen die Deutsche Lamia K. verhängt wurde. Drei Frauen und neun Kinder werden in ein Zimmer im zweiten Stock geführt. Fotos von den Kindern sind nicht erlaubt. Der Untersuchungsrichter erklärt den Frauen, sie müssten nicht mit den Reportern sprechen, es sei ihre Entscheidung. Zwei lehnen ab, sie versuchen nicht einmal, den Eindruck zu erwecken, sich von den Gräueltaten des IS zu distanzieren.

Die 27-jährige Hazime Ö. aus Bremen erklärt, gelitten hätten doch vor allem die Menschen beim IS, sie seien ständig "bombardiert und terrorisiert" worden. Die Frau hat drei Kinder bei sich, keines ist älter als sechs Jahre. Die aus Rüsselsheim stammende Ilknur K. lässt sich auf ein Gespräch ein. Auf ihrem Arm hält sie eines ihrer drei Kinder, strohblond, zwei Jahre alt. Über die terroristische Organisation, der sie sich freiwillig anschloss, will auch sie nicht reden. Frage der Reporter: "Sehen Sie den IS inzwischen kritisch?" Antwort Ilknur K.: "Dazu möchte ich nichts sagen."

Von den Haftbedingungen und ihren Kindern dagegen will sie erzählen. Ilknur K. behauptet, sie und die anderen deutschen Frauen würden sich mit 106 Personen - alles Frauen und Kinder, die meisten aus der Türkei - eine Zelle teilen. Die Versorgung sei "in Ordnung", das Rote Kreuz bringe einmal in der Woche Windeln, Babymilch und Creme. Die hygienischen Zustände aber seien katastrophal, es gebe nur eine Toilette, die medizinische Versorgung sei schlecht. Ihre Kinder seien ständig krank, litten unter Husten und hohem Fieber. Es fehle an allem. Die Kinder würden Flaschendeckel sammeln und damit spielen. Die irakischen Behörden dagegen sagen, der medizinische Standard sei gut.

Die Kinder sind in einem ungepflegten Zustand, die Haare ungewaschen. Sie kennen nur Krieg oder Knast. Sie sitzen auf dem Boden oder klammern sich an den Hals ihrer Mütter. Manche wirken apathisch, ja krank. Andere schreien und wollen sich gar nicht beruhigen. Ilknur K. sagt, sie wolle, dass die Kinder so bald wie möglich zu ihren Eltern nach Deutschland gebracht würden.

Am Flughafen in Bagdad besteigt der Großvater eine Maschine nach Deutschland, sein Enkel streckt die Hand aus, zeigt auf das Cockpit. Was mag er denken? Flugzeuge standen in seinem bisherigen Leben für Tod und Zerstörung. Zu Hause warten die deutschen Behörden, das erste zurückgekehrte Kind aus dem IS-Gebiet wird aufmerksam beobachtet und betreut werden müssen. Ein Opa, der seinen Enkel nie zuvor sah, ahnt, wie groß die Herausforderung auch für ihn sein wird. Aber er sagt: "Das Kind gehört nicht ins Gefängnis, sondern in ein normales Leben."

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SZ vom 02.02.2018/lkr
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