Süddeutsche Zeitung

Ex-Innenminister vor NSU-Ausschuss:Schilys späte Einsichten

Der frühere Innenminister Schily gibt sich im NSU-Ausschuss ungewohnt reumütig. Er selbst und die Behörden hätten bei den Ermittlungen schwere Fehler gemacht. Für seine offenen Worte erntet der SPD-Politiker Lob selbst von den CDU-Leuten. Nur eine kleine Hakelei zerstört die nachdenkliche Stimmung.

Von Tanjev Schultz, Berlin

Otto Schily holt eine Packung Taschentücher und einen dicken Aktenordner aus seiner Ledertasche, vor ihm auf dem Tisch steht ein Glas Multivitamin-Saft. Wer das als Zeichen dafür deutet, dass der frühere Bundesinnenminister Kraft sammelt für einen stundenlangen Monolog, liegt aber falsch. Vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags benimmt sich der Zeuge Schily am Freitag ganz anders als bei seinem legendären Auftritt 2005, als er vor dem Visa-Untersuchungsausschuss die Abgeordneten mehr als fünf Stunden lang mit einem Referat zermürbte, bevor er sich endlich weitere zehn Stunden lang befragen ließ.

Diesmal braucht Schily nur elf Minuten für seine einleitenden Bemerkungen. Dass es über viele Jahre nicht gelungen sei, der Neonazi-Gruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) auf die Spur zu kommen, sei "höchst schockierend", sei "deprimierend und bitter", sagt Schily.

Die Sicherheitsbehörden hätten "objektiv versagt". Er trage dafür gemeinsam mit den damaligen Landesinnenministern die politische Verantwortung. Ihn belaste das sehr, sagt der 80-Jährige. Die Bekämpfung des Rechtsextremismus sei ihm immer ein vorrangiges persönliches Anliegen gewesen.

Für seine offenen Worte erntet der SPD-Politiker nicht nur Lob von seiner Parteifreundin Eva Högl, sondern auch von der CDU. Deren Obmann im Ausschuss, Clemens Binninger, spricht von "einem guten Zeichen", das Schily gesetzt habe. Im Ausschuss habe es schon ganz andere, uneinsichtige Zeugen gegeben.

Bearbeitung des Fall erscheint "etwas schildkrötenhaft"

Schily war von 1998 bis 2005 Bundesinnenminister, in diese Zeit fallen sieben von zehn Morden, die mittlerweile dem NSU zugerechnet werden. Die Ermittler hielten die Mordserie damals für das Werk einer kriminellen Bande von Drogenhändlern oder Schutzgelderpressern. Schily selbst hat sich offenbar nie intensiv mit den Verbrechen befasst. Polizei und Staatsanwälte ermittelten dezentral in den Bundesländern; ob die Morde je Thema in Schilys Sicherheitsrunde waren, daran kann sich der Ex-Minister nicht mehr erinnern.

In einem Fall allerdings war er mit einer Tat des NSU konfrontiert: Im Juni 2004 explodierte in der Kölner Keupstraße eine Nagelbombe und verletzte 22 Menschen. In der Straße wohnen und arbeiten überwiegend Menschen mit türkischen Wurzeln, die Ermittler erkannten aber auch hier den terroristischen Hintergrund der Tat nicht. Einen Tag nach der Explosion äußerte sich Schily im Fernsehen und sagte, die Erkenntnisse der Behörden würden, auch wenn ein abschließendes Urteil noch nicht möglich sei, eher auf ein "kriminelles Milieu" hindeuten. Schily nennt das nun einen "schwerwiegenden Irrtum".

Offenbar hat er damals nicht nachgehakt und es versäumt, politische Motive intensiver prüfen zu lassen. Eine Beamtin des Ministeriums, die vor Schily als Zeugin aufgetreten ist, sagt im Ausschuss, die Bearbeitung des Falls könnte "etwas schildkrötenhaft" erscheinen.

Dabei hätte eine konsequente Suche nach Neonazis auch helfen können, die ungeklärte Mordserie aufzuklären. Nicht nur bei dem Bombenanschlag in Köln, sondern ebenso bei den Mordfällen waren verdächtige Männer mit Fahrrädern aufgefallen. Das waren, da sind sich die Ermittler heute sicher, die NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt.

Der FDP-Abgeordnete Hartfrid Wolff wirft Schily vor, mit dazu beigetragen zu haben, dass die Ermittlungen jahrelang in die falsche Richtung liefen. Anwohner der Keupstraße hätten durchaus die Vermutung eines rassistischen Anschlags geäußert - ohne Folgen. Otto Schily weiß dazu nichts zu sagen, ihm würden Erinnerungen fehlen. Bei seiner Einschätzung kurz nach dem Kölner Anschlag habe er nur vorgetragen, was ihm die Ermittler vermittelt hätten. So bleibt der Eindruck, dass Schily diesem Verbrechen als Minister eine viel zu geringe Bedeutung beimaß. Den Vorwurf, in dem Fall nicht aktiv genug gewesen zu sein, müsse er sich gefallen lassen, sagt Schily.

Eine kleine Hakelei zerstört die nachdenkliche Stimmung

Über die Frage, wer damals was und wie mitgeteilt hat, kommt es im Ausschuss kurzzeitig zu einer Hakelei, als der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD) versucht, den Grünen-Politiker Wolfgang Wieland bei einem Detail zu korrigieren. Wieland spricht Edathy daraufhin mit den flapsigen Worten an: "Herr Verteidiger des Innenministers a. D." Edathy weist die "Unterstellung", er würde seinen Parteifreund Schily ungebührlich in Schutz nehmen, sofort scharf zurück. Schily wiederum legt Wert auf die Feststellung, er sei ja nicht als Angeklagter hier - weshalb er einen Verteidiger ohnehin nicht benötige.

Das kleine Spektakel zerstört die nachdenkliche Stimmung im Ausschuss. Die Linke-Abgeordnete Petra Pau hatte gerade einen Brief zitiert, den sie am Freitag von einer Anwohnerin der Kölner Keupstraße erhalte hatte. Darin schildert eine Kurdin, wie sie und ihr damals sieben Jahre alter Sohn den Anschlag erlebten: "Ich hörte einen lauten Knall und dachte, es sei ein Erdbeben." Sie habe Menschen schreiend hin und her rennen gesehen, dann sei plötzlich die Polizei in ihre Wohnung gestürmt, habe zwei Türen aufgebrochen und alles durchsucht.

Die Polizei habe sie und ihren Mann verdächtigt, nur weil sie Kurden seien, schreibt die Frau. "Stundenlang durfte ich mich nicht bewegen, die gesamte Wohnung wurde auf den Kopf gestellt." Die aufgebrochenen Türen seien nie ersetzt worden. Jahrelang habe das Stigma der Verdächtigungen auf ihrer Familie gelastet. Sie und ihr Sohn würden unter Angstzuständen leiden, schreibt die Frau. "Wir haben Angst vor der Polizei."

Otto Schily hört konzentriert zu, den Kopf von einer Hand gestützt. "Dieser Brief ist sehr eindrucksvoll", sagt er leise.

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SZ vom 16.03.2013/olkl
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