Missbrauch in der evangelischen Kirche:Der Aufschrei ist ausgeblieben

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Martin Wazlawik vom Forschungsverbund Forum übergab die Studie zum Missbrauch im Januar an Kirsten Fehrs von der EKD. (Foto: Julian Stratenschulte/DPA)

Vor Monaten belegte eine große Studie Missbrauch in der evangelischen Kirche - doch die Empörung hielt sich in Grenzen, selbst die Basis ist still. Das hängt offenbar auch mit den Strukturen zusammen.

Von Annette Zoch

Vor fast vier Monaten hat ein großes unabhängiges Forscherkonsortium in Hannover die große Missbrauchsstudie für die evangelische Kirche und die Diakonie vorgestellt. Damit war die evangelische Kirche schon spät dran - immerhin war bereits sechs Jahre vorher, im Jahr 2018, die sogenannte MHG-Studie für die katholische Kirche vorgestellt worden.

Anders als nach Veröffentlichung der MHG-Studie ist aber die große Empörung über die Taten in der evangelischen Kirche bislang ausgeblieben, auch die Resonanz an der Kirchenbasis ist mäßig. Es habe von evangelischen Gemeinden - anders als bei katholischen - kaum Reaktionen auf die Ergebnisse der Forum-Studie gegeben, sagte etwa der Mitautor und Historiker Thomas Großbölting im April bei einer Online-Veranstaltung des Dekanats Fürth. Zugeschaltet waren dem Evangelischen Pressedienst zufolge nur 25 Teilnehmer.

"Schuldig kann jeder werden."

Es sei ein hartes, schmerzliches und beschämendes Thema, sagt Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der EKD und Autor eines Buches zu Missbrauch in der evangelischen Kirche. "Die Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche lässt sich nicht als antiautoritärer Protest gestalten und abreagieren", so Claussen. "Denn hier geht es nicht um etwas, das nur einer bestimmten Kaste vorgeworfen werden könnte. Schuldig kann jeder werden: Pfarrer, Mitarbeitende, Ehrenamtliche, jugendliche Teamer, in der Diakonie sogar ziemlich viele Frauen." Dies gelte auch für den Umgang Kirchenleitender mit Tätern und Taten: Keiner, der länger im Dienst sei, würde von sich behaupten, früher alles richtig gemacht zu haben.

Unmittelbar nach Veröffentlichung der Forum-Studie war der Ruf nach einer Sondersynode auf EKD-Ebene laut geworden. Synodenpräses Anna-Nicole Heinrich verwies allerdings auf die reguläre Synode im November. "Eine Tagung nur deshalb zu veranstalten, um gegenüber der Öffentlichkeit kommunikativ in die Offensive zu kommen, hielte ich für falsch", sagte sie im Interview mit Katholisch.de. Allerdings müsse man "bis in die letzte Gemeinde" über die Studie und Konsequenzen sprechen, forderte Heinrich.

Das "Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt" in der EKD (Befo), ein Gremium aus Betroffenen- und Kirchenvertretern, erarbeitet derzeit einen Maßnahmenplan mit konkreten Vorschlägen aus der Forum-Studie. Er soll auf der EKD-Synode im November beschlossen werden, auch um einheitliche Regeln für Anerkennungsleistungen soll es dann gehen.

Das Interesse an einer Online-Veranstaltung war nicht sehr groß

Allerdings ist die Tagesordnung der Synode jetzt schon prall gefüllt, unter anderem muss ein neuer Ratspräsident oder eine neue Ratspräsidentin gewählt werden, nachdem die Ratsvorsitzende Annette Kurschus im November 2023 zurückgetreten ist. Statt einer Sondersynode gab es im März eine Online-Veranstaltung zur Forum-Studie. Doch das Interesse daran sei auch hier überschaubar gewesen, berichten Teilnehmer.

Detlev Zander, Betroffenensprecher des "Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt" bei der EKD sagte, vor der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) Ende April habe er sich anhören müssen, was das Thema da schon wieder solle. Die bayerische Synodenpräsidentin Annekathrin Preidel sagte auf der Landessynode, "wir werden wachsam bleiben" und "neu aufmerksam werden" - so als sei die Kirche immer schon wachsam gewesen. Kaum ein Wort verlor sie in ihrer Rede über eine Aufarbeitung vergangener Taten und die Übernahme von Verantwortung. "Prävention ist keine Aufarbeitung", sagt hingegen Detlev Zander.

Verbindliche Standards, wie die Aufarbeitung geschehen soll, hatte die EKD erst Ende 2023 verbindlich mit der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Kerstin Claus, vereinbart. Unter anderem soll es regionale Aufarbeitungskommissionen geben - daran wird derzeit gearbeitet.

Schutzkonzepte allein reichen nicht

Auf die Bedeutung von Aufarbeitung weist auch Johann Hinrich Claussen in einem Kommentar für Politik und Kultur hin: "Wie soll man etwas für die Zukunft verbessern, dessen Vergangenheit man nicht analysiert hat? Muss man sich nicht zuerst der eigenen Schuldgeschichte stellen?" Es sei eine Falle zu meinen, das Thema allein durch Schutzkonzepte, Richtlinien, Leitfäden und Beschwerdestellen professionell in den Griff zu bekommen. "Müsste man betroffenen Personen nicht mehr Raum geben - eben in einer Aufarbeitung?"

Für einen Kirchenkreis in der Hannoverschen Landeskirche gab es jüngst eine solche Studie: Mitte Februar hatte eine unabhängige Aufarbeitungskommission ihren Bericht zu Fällen sexualisierter Gewalt durch einen Diakon in Ausbildung in einer evangelischen Gemeinde in Oesede im Kirchenkreis Melle-Georgsmarienhütte vorgelegt. Der Mann hatte Ende der 1970er-Jahre mindestens acht Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht. Bereits 2010 habe sich eine Betroffene beim Landeskirchenamt gemeldet, dieses habe nichts unternommen, um weitere Betroffene zu ermitteln oder die Fälle aufzuklären, so die Forscher.

Betroffene forderten Landesbischof Ralf Meister zum Rücktritt auf. Er räumte Fehler ein: "Ich habe mit dazu beigetragen, dass Betroffene weiterhin nicht angemessen gehört wurden", sagte er. Einen Rücktritt lehnte er jedoch "nach Abwägung und Gewissensprüfung" ab, so Meister: "Was verändert sich durch einen Rücktritt mit Blick auf die Gesamtlage der Kirche, die dieses als ein zentrales und absolut brutales Versagen ihres eigenen Handelns sieht, dies aber nicht als einziges Thema der Kirche hat?"

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