Euthanasie-Vorwurf gegen Sewering:Der Ärztepräsident und das tote Mädchen

Hans-Joachim Sewering, 1973

Hans-Joachim Sewering im Jahr 1973 als Präsident der Bundesärztekammer

(Foto: sz.sonstige)

Der langjährige Ärztepräsident Hans-Joachim Sewering wurde jüngst geehrt - und mit alten Vorwürfen konfrontiert: Er sei in der NS-Zeit an der Ermordung behinderter Kinder beteiligt gewesen. "Unfug", sagt der hochbetagte Internist.

Oliver Das Gupta

Der Präsident ließ keinen Hauch eines Zweifels aufkommen. "Ärztliches Handeln darf nie mit dem Ziel übereinstimmen, ein Leben zu beenden", erklärte Hans-Joachim Sewering. Ein Kranker dürfe nicht Sorge haben, "dass der Arzt eines Tages mit der Spritze an sein Bett tritt, um den Patienten umzubringen," postulierte laut Spiegel der damalige Chef der Bundesärztekammer auf dem Bayerischen Ärztetag 1977.

Mehr als 30 Jahre später meldet das Hamburger Magazin: "Internisten-Verband verleiht Nazi-Arzt höchste Ehrung". Der Berufsverband Deutscher Internisten (BDI) habe einen Mediziner ausgezeichnet, der von 1942 an in das sogenannte Euthanasie-Programm involviert gewesen sei, bei dem behinderte Kinder umgebracht wurden. Der Name des Arztes: Hans-Joachim Sewering.

Neu ist die Causa nicht: Schon seit Jahren wird dem inzwischen 92-Jährigen vorgeworfen, er habe beim perversen "Ausmerzen" (Nazi-Jargon) des aus NS-Sicht "unwerten Lebens" mitgeholfen - seine Jugend-Vita verstärkt den Eindruck. Im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung wehrt sich der Arzt gegen die Vorwürfe.

Sewering erinnert sich an den 30. Januar 1933 - den Tag, an dem Adolf Hitler an die Macht kommt. Hans-Joachim Sewering hat Geburtstag, er wird 17 Jahre alt. Und bald begeistert sich der Gymnasialschüler für die "nationale Bewegung" - so wie später "die jungen Leute für Rockkonzerte", sagt er heute: "Wir sind einfach der Propaganda zum Opfer gefallen."

Eine Karriere beginnt. Noch 1933 tritt Sewering in die SS ein, ein Jahr später wird er Mitglied der NSDAP. Der Heranwachsende entscheidet sich für ein Medizinstudium. Nach dem Krieg lässt sich Sewering in Dachau im Norden von München nieder, tritt in die CSU ein und wird als Ärztefunktionär tätig - der Grundstock eines steilen Aufstiegs. Der umtriebige Internist sammelt Ämter und Mandate an (1973 summieren sie sich auf 26) und bringt es schließlich zum Präsidenten der Bundesärztekammer. Auch auf dem Gesundheitsforum der Süddeutschen Zeitung tritt der Jagdliebhaber bis in die neunziger Jahre regelmäßig auf.

Sewering habe sich "wie kaum ein anderer um die Freiheit des ärztlichen Berufsstandes" verdient gemacht, lobt Internisten-Präsident Wolfgang Wesiack. Deshalb verlieh ihm der Verband die Günther-Budelmann-Medaille, die höchste Auszeichnung der Internisten. Die Ehrung fand nach SZ-Informationen bereits am 30. März am Rande des Internistenkongresses in Wiesbaden statt.

Verhinderter Aufstieg zum Chef des Weltverbandes

"Er hat eine Menge für die deutsche Ärzteschaft nach dem Krieg getan", erklärt Michael Roelen im Gespräch mit der SZ "Aber die Mediziner waren ja im Dritten Reich fast alle in der NSDAP - und nach dem Krieg reaktionär bis in die Spitzen."

Der frühere Geschäftsführer der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) hat Anteil an der Kampagne, die sich Anfgang der neunziger Jahre gegen Sewering richtet. Damals laufen auch der Jüdische Weltkongress und die American Medical Association Sturm gegen Sewerings anstehende Wahl zum Präsidenten des Weltärztebundes. Die US-Regierung setzt ihn sogar auf die watch list. Er darf nicht in die Vereinigten Staaten einreisen, wie weiland der österreichische Bundespräsident Kurt Waldheim.

Sewering verzichtet 1993 schießlich auf den Posten als Chef des Weltverbandes - was ausdrücklich nicht als "Schuldanerkenntnis" (der damalige Ärztepräsident Karsten Vilmar zur SZ) gelten soll.

Sewering spricht von "aus Arbeitsüberlastung"

Als exemplarisch für Sewerings Verwicklung wird stets der Fall der Babette Fröwis genannt. Die damals 14-Jährige lebt 1943 in der Pflegeanstalt für Behinderte in Schönbrunn. In dem abgeschiedenen Kloster nahe Dachau kümmern sich Nonnen des Franziskaner-Ordens um ihre Schützlinge - der junge Arzt Hans-Joachim Sewering ist auch dabei.

Am Tag, als die Wehrmacht Polen überfällt und damit den Weltkrieg entfesselt, legalisiert der Tyrann Hitler das systematische Morden von Behinderten - in der Sprache der Nationalsozialisten ist von "Menschenhülsen" und "Minusvarianten" die Rede. Eigenhändig unterschreibt Hitler am 1. September 1939 den Erlaß, der den "Gnadentod" von "unheilbar Kranken" anordnet.

Mehr als 200.000 geistig Behinderte werden während der NS-Zeit umgebracht, darunter Tausende Kinder. Die Opfer werden zu sechs Tötungsanstalten gekarrt und dort zumeist vergast. Nach Protesten der katholischen Kirche setzt das Regime die Ermordungen vorgeblich aus - und lässt sie im Verborgenen weiterlaufen. Wer in der Pflegeanstalt Schönbrunn davon wusste, ist strittig.

Sewering erinnert sich heute noch gut an seine Zeit in Schönbrunn. Er habe damals geglaubt, dass die "Aktionen" geendet hätten. Erst später will Sewering erfahren haben, dass man "unwertes Leben" (Nazi-Jargon) weiterhin vernichtet habe. Die Patienten werden nun direkt in den Einrichtungen umgebracht, manchmal lässt man sie verhungern oder spritzt ihnen eine Überdosis Beruhigungsmittel - so wie es mit Babette Fröwis geschieht.

Ihre Krankenakte liegt nach wie vor im oberbayerischen Bezirksarchiv. Dort ist in einem ärztlichen Zeugnis zu lesen: "Sie leidet an Epilepsie und ereth[ischer]. Idiotie." Und weiter: "Da Fröwis sehr unruhig ist, ist sie für Schönbrunn nicht mehr geeignet; sie wird in die zuständige Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar eingewiesen." Unterschrieben ist das Papier mit "Dr. Sewering".

Babette, eines von 300 ermordeten Kindern

Am 1. Oktober kommt sie laut Krankenakte in Eglfing-Haar an, zwei Wochen später wird nüchtern vermerkt: "Seit 5 Tagen mangelhafte Nahrungsaufnahme, verschluckt häufig Essen. Seit einigen Tagen tracheobronchitische Symptome. Heute Exitus." Babette Fröwis ist eines von etwa 300 Kindern, die in Haar zwischen 1940 und 1945 ermordet werden.

Fast 65 Jahre später beteuert Sewering nach wie vor, damals nichts von der mörderischen Praxis gewusst zu haben. Auf die Causa Fröwis angesprochen, sagt er: "Ich habe die Patientin nie gesehen." Warum er trotzdem die Überweisung des Mädchens unterschrieben hat, erklärt der Multi-Funktionär a. D. mit der damaligen Arbeitsüberlastung. Schließlich war ihm damals neben "Zähneziehen" und "Abszesse-Aufschneiden" auch noch die "ärztliche Versorgung der umliegenden Dörfer aufgebrummt" worden.

Im Übrigen habe er zu den Schönbrunner Schwestern ein "unglaublich enges Vertrauensverhältnis" gehabt: "Wenn sie für ein Papier eine Unterschrift gebraucht haben, habe ich es unterschrieben." Und immer wieder beteuert Sewering: Er habe nichts von den Euthanasie-Morden in Eglfing-Haar gewusst, weder er noch die Schwestern.

Kritiker wie Michael Roelen nehmen das dem Mediziner nicht ab: "Er schiebt es auf die Krankenschwestern", sagt Roelen: "Das ist der Versuch des Reinwaschens." Der IPPNW-Mann ist überzeugt: "Sewering war fest integriert in das System."

Auch die Erinnerungen der früheren Schönbrunner Generaloberin Benigna Sirl lassen Zweifel aufkommen. Der Süddeutschen Zeitung sagte die Schwester 1997 über die Morde in Haar: "Wir wussten sehr wohl, was dort passiert."

Sewering weist heute darauf hin, dass seine Rolle "von der Staatsanwaltschaft eingehend untersucht worden" sei - 1995 wurde er im vollen Umfang vom Vorwurf der Euthanasie entlastet. Die nun wieder hochgekommenen Vorwürfe aus der "scheußlichen NS-Zeit" perlen an ihm ab: Sie seien "reiner Unfug", da sei "alles Mögliche erfunden worden".

Seine demokratische Einstellung habe er in seinen vielen Funktionärsjahren zu Genüge unter Beweis gestellt, fügt Sewering noch an: "Sonst hätten mich die Kollegen wohl kaum 40 Jahre lang immer wieder gewählt."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: