Bislang sind die Europaskeptiker im Europäischen Parlament zwar laut, aber machtlos. Doch nach den Wahlen im Mai könnte sich das ändern. Marine Le Pens Front National könnte in Frankreich sogar stärkste Partei werden - ausgerechnet in einem Gründungsstaat der EU. Der Erfolg Le Pens gilt vielen als Symptom für ein größeres Problem, einem grassierenden Euroskeptizismus. Medienberichte und Vertreter pro-europäischer Parteien warnen vor dem Aufstieg der Rechtsaußenparteien.
Ganz anders sieht das der Niederländer Cas Mudde. Gleich zu Beginn einer Tagung zum Thema Rechtsextremismus und Populismus der Bundeszentrale für politische Bildung in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission überrascht der Politikwissenschaftler mit der Aussage: "Sie diskutieren möglicherweise ein Phänomen, das völlig irrelevant ist." Mudde erforscht seit 20 Jahren rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien in Europa - inzwischen aus der Ferne an der US-amerikanischen University of Georgia. Mudde glaubt, in der Debatte vier gewichtige Irrtümer ausgemacht zu haben.
Irrtum 1: Die Rechtspopulisten feiern bei der nächsten Europawahl große Erfolge.
Stimmt nur bedingt, sagt Mudde. Auf Basis von Ergebnissen der jüngsten Parlamentswahlen kommt der Politikwissenschaftler auf folgende Zahlen: In das Europäische Parlament werden Rechtsaußenparteien aus 13 Mitgliedstaaten einziehen. Diese Parteien vom rechten Rand werden, wenn man jüngste Meinungsumfragen mit einrechnet, 45 Sitze gewinnen, was einem Zugewinn von acht Sitzen entspricht. Dieser Zuwachs ergibt sich fast ausschließlich aus dem Stimmengewinn des Front National. Damit würden die Rechtsaußenparteien lediglich sechs Prozent aller Sitze im Europäischen Parlament auf sich vereinen.
Irrtum 2: Nach der Wahl wird ein starker europaskeptischer Block im Parlament sitzen.
Nein, sagt Mudde. Selbst wenn man alle Europaskeptiker zusammenzählt, die weichen und die harten von linker wie von rechter Seite, dürften sie in etwa auf 120 Sitze kommen. Eine Studie der Deutschen Bank und der Universität kommt auf 27 Prozent. Doch selbst diese Prognose bringt Mudde nicht aus der Fassung, denn damit wäre die überwiegende Mehrheit der im Parlament vertretenen Parteien immer noch pro-europäisch.
Zudem sei es unwahrscheinlich, dass die Europaskeptiker auch zusammenarbeiten. Bei den anti-europäischen Populisten handele es sich Mudde zufolge um eine "amorphe Gruppe rechter und linker Populisten". Diese Gruppe verzeichne eine Zunahme von 34 Sitzen. Ein Großteil des Zugewinns ginge aber auf das Konto von Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung, die Gewinne des Front National fielen bei dieser großen Gruppe dann gar nicht mehr sonderlich ins Gewicht. Mudde ist sich sicher: Diese Gruppe wird nicht im Sinne einer Fraktion zusammenarbeiten. Das gelte sogar nur für die Rechtsaußenparteien. Zwar haben Geert Wilders und Marine Le Pen im vergangenen November öffentlichkeitswirksam eine Allianz gegen "das Monster in Brüssel" ausgerufen. Aber die bisherigen Rechtsaußen-Fraktionen waren im Europäischen Parlament sehr instabil, meist sind sie wegen kleiner interner Streitigkeiten auseinandergebrochen. Mudde sagt: Aufgrund ihrer nationalistisch geprägten, thematischen Heterogeniät sind die Rechtspopulisten im Europäischen Parlament so stark fragmentiert, dass sie nicht in der Lage sind, eine stabile Fraktion zu bilden.
Der Glaube ist weit verbreitet, insbesondere in Deutschland. Gerne kommen historische Vergleich zur Weimarer Republik und zur Großen Depression, die dem Nationalsozialismus den Boden bereitet habe. Mudde sagt: "Weimar war die Ausnahme, nicht die Regel." So seien die Wahlergebnisse der extremen Rechten außerhalb Deutschlands in den 30er Jahren nicht besonders gut gewesen. Wirtschaftskrisen hätten Mudde zufolge selten zu Wahlerfolgen für Rechtsaußen geführt, nicht in den 30er Jahren, "nicht die Ölkrise der 1970er Jahre, nicht der Wandel von sozialistischer Diktatur zu kapitalistischer Demokratie in Osteuropa in den 1990er Jahren." Und auch jetzt zeige sich: Nur in einem der Länder, die unter den Euro-Rettungsschirm mussten, feiert eine rechtsextreme Partei große Erfolge: die Goldene Morgenröte in Griechenland. In den anderen vier Ländern, Zypern, Irland, Portugal und Spanien gibt es für Rechtsextreme und Rechtspopulisten keine nennenswerten Zugewinne. Erfolge feiern die Rechtsaußenparteien ausgerechnet in den Ländern, die relativ wenig von der Wirtschaftskrise betroffen sind. In Österreich zum Beispiel, oder auch in Frankreich. Mudde argumentiert mit der Hierarchie der Bedürfnisse, was sich in etwa so zusammenfassen lässt: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Wenn man wirtschaftlich abgesichert sei, könne man sich um unterschwellige Ressentiments kümmern.
Irrtum 4: Die Rechtspopulisten profitieren vom Vertrauensverlust der EU
Stimmt, statt einst 60 Prozent bringen nur noch 30 Prozent der Europäer der EU Vertrauen entgegen. Allerdings liegt das Vertrauen in die Regierung auf nationaler Ebene noch tiefer. Eine europakritische Grundhaltung per se muss aber nicht dazu führen, dass die Wähler Rechtsaußenparteien wählen.
Mudde fasst zusammen: "Ich glaube, dass die extreme Rechte nur den Sicherheitskräften Sorgen machen muss, nicht den Politikern." Und auch den Rechtspopulisten solle man nicht zu viel Aufmerksamkeit widmen. Ein Vertreter der Europäischen Kommission, der in Köln im Publikum sitzt, widerspricht. Er beklagt, dass insbesondere die Rechtspopulisten einen unverhältnismäßig hohen Einfluss auf die etablierten Parteien hätten. Der politische Diskurs würde sich nach rechts verschieben.
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Doch Mudde bleibt dabei - beurteilt aber die Auswirkungen seiner Aufklärungsbemühungen eher zurückhaltend:
Er warnt davor, die Bedrohung zu übertreiben. Die Rechtspopulisten beanspruchen ja gerne für sich, die Stimme des wahren, integren Volks zu spiegeln. Dass dem nicht so ist, zeigen die Zahlen: Denn selbst wenn Geert Wilders auf 25 Prozent Zustimmung kommt, dann bedeutet das umgekehrt, dass 75 Prozent der Niederländer den Rechtspopulisten nicht unterstützen, sagt Mudde. Auch eine Art, die Macht der Populisten zu entzaubern.