Grüne nach der Wahl:Demütige Kampfkaninchen

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Robert Habeck bei der Pressekonferenz am Tag nach der Europäischen Parlamentswahl. (Foto: dpa)

Nach dem großen Erfolg bei der Europawahl geben sich Grünen-Chef Robert Habeck und Spitzenkandidat Sven Giegold selbstbewusst. Machtfragen aber weichen sie aus.

Von Stefan Braun, Berlin

Wie soll man das verstehen? Ist der große Sieger demütig? Oder bescheiden? Schüchtern gar oder ein ausgebuffter Leisetreter? Als Robert Habeck am Montagmorgen in Berlin auftritt, schwingt von allem etwas mit. Nur eines nicht: das Bild vom großen Triumphator - das hat er entweder nicht im Repertoire oder er unternimmt sprichwörtlich alles, um es auf keinen Fall auch nur anzudeuten. Da hat seine grüne Partei einen sensationellen Erfolg eingefahren. Und Habeck sitzt da, als hätten die Wähler ihm die ganze Last einer hochschwierigen Welt auf die Schultern geladen.

Nun ist das natürlich nicht die ganze Geschichte. Gut vierzehn Stunden zuvor, am Abend einer historischen Europawahl, hatte auch der Grünen-Chef Habeck erstmal ausgelassen gejubelt und nicht philosophiert; er hatte die Arme in die Höhe gereckt, die Bremer Spitzenkandidaten geherzt und sich dabei so schelmisch gefreut wie ein Junge, dessen Handballmannschaft den Europapokal gewonnen hat.

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Eine lange Zugfahrt und kurze Nacht später ist die spontane Euphorie gewichen, sind die Gedanken schon wieder nach vorne gerichtet. Und Habeck sagt quasi zur Begrüßung, das Ergebnis mache ihn "ganz schön demütig". Wie tief das tatsächlich geht, lässt sich aus diesem Auftritt nicht herauslesen. Von dieser Linie aber wird Habeck nicht mehr abweichen. Von einer "immensen Aufgabe" spricht er, der Aufgabe, dem Land, den Leuten, der Gesellschaft "Orientierung zu geben". Denn jetzt seien die Grünen "im Zentrum der politischen Debatte" angekommen. Und das in einer Zeit, in der sich "die Parteiendemokratie nochmal neu formatiert". So jedenfalls lese er das Wahlergebnis und die Erwartungen der Menschen. "Ganz schön viel Erwartung" sei das, fügt Habeck noch hinzu.

Auf die Frage, ob er die Größe der Verantwortung fürchte, weil er so nachdenklich auftrete, antwortet der Grünen-Chef: "Wir haben keine Angst vor guten Wahlergebnissen. Aber selbstverständlich wissen wir, dass wir Erwartungen geweckt haben, die wir auch erfüllen müssen." Habeck schafft es an diesem 27. Mai 2019, zwei Bilder gleichzeitig entstehen zu lassen: das Bild von der neuen Last und Verantwortung - und das Bild von den breiten Schultern, die diese Last natürlich auch aushalten möchten. Habeck Herkules - das ist es, was da heimlich mitschwingt.

"In Europa ist der Klimaschutz gewählt worden"

Etwas geerdeter und konkreter wird Sven Giegold, neben Ska Keller Spitzenkandidat der Grünen. Er soll weniger über die neue Macht der Grünen in Deutschland reden und sehr viel mehr auf den bevorstehenden Kampf um die Posten in Brüssel eingehen. "In Europa ist der Klimaschutz gewählt worden", sagt Giegold. "Und die Blockademacht der großen Koalition (aus EVP und Sozialisten) wurde gebrochen." Die Bundesregierung sei nun gefordert, wie Frankreich ein "ambitioniertes Programm für Europa" vorzulegen. Im Übrigen sei das Europaparlament durch die höhere Wahlbeteiligung massiv gestärkt worden. Deshalb wäre es "ein Treppenwitz der Geschichte", wenn nach diesem Wahlsonntag wieder der Rat mit dem Staats- und Regierungschefs alles an sich reißen würde.

Um das zu verhindern, so Giegold, würden die Grünen in den nächsten Tagen sehr genau prüfen, in welchem Bündnis und mit welchen Partnern im neu gewählten Europaparlament der Klimaschutz tatsächlich und unmissverständlich vorangebracht werden könne. "Für uns gehen Themen vor Personen", heißt es bei Giegold wieder und wieder. Und diese Sicht auf die Dinge sei durch den Wahlerfolg nur nochmal verstärkt worden.

Im Übrigen müsse man bei allen Fragen, die sich nun in Brüssel stellen werden, eines erkennen: "Es gibt nicht mehr eine pro-europäische Mehrheit links der Mitte und eine rechts der Mitte." Es gebe nur noch eine "pro-europäische Mehrheit" gegen die rechtspopulistischen Kräfte, die Europa allesamt schwächen wollten. Das zwinge alle Vernünftigen dazu, gemeinsam nach Projekten für eine pro-europäische Politik zu suchen, sei es der Klimaschutz, die Sozialpolitik oder die Sicherheit.

Je länger Giegold und Habeck sprechen und sich erklären, desto besser scheinen sie zusammen zu passen. Der eine philosophiert über die große Lage in Deutschland, der andere demonstriert sachliche Härte in Europa. Der vermeintlich sanftere Habeck nimmt dem scharfzüngigen Giegold die Härte; der präzise Giegold liefert zum Nachdenker Habeck eine gewisse Klarheit in den Konsequenzen.

So erklärt Giegold auf die Frage nach der grundsätzlichen Strategie im Kampf gegen die Rechten in Europa, es sei grundfalsch, wie "ein Kaninchen vor der Schlange zu sitzen", weil das nur die Schlange stärke. Und Habeck ergänzt, man müsse am Ende "vor allem sich selbst vertrauen". Dann antwortet Habeck auf die Frage einer Schweizer Journalistin, ob ihnen der "unbedingte Wille zur Macht" fehle, sie seien halt so etwas wie "Kampfkaninchen". Und Giegold fügt sofort hinzu, man dürfe nicht unterschätzen, wie hart Kaninchen zubeißen könnten.

Kampfkaninchen. Das dürfte länger im Gedächtnis bleiben.

Und dazu natürlich die Frage, was den Grünen wohl zu diesem außergewöhnlichen Erfolg verholfen haben könnte. Von vielen Gründen reden beide. Vom Klimaschutz, der alle beschäftige (Giegold); und von dem Gefühl, dass die Menschen inzwischen vor allem den grünen die Verteidigung der liberalen weltoffenen Demokratie zutrauten (Habeck).

Spannender aber wird es, als es um den Anteil jenes Videos geht, in dem der Youtuber Rezo in der vergangenen Woche die Union und ihre Klimapolitik voll attackiert hatte. Von "einem erheblichen" Anteil spricht Habeck und fügt schnell hinzu, er hoffe, dass dieser Anteil gleichwohl nicht zu stark werde. Gut sei, dass es eine Öffnung gebe, mit einer neuen Sprache, neuen Botschaften, neuer Wucht - das verändere für alle anderen die Kommunikation.

Gleichzeitig aber hoffe er, dass der Einfluss nicht zu groß werde. Am Ende nämlich unterscheide sich die schwarz-weiß-Welt der sozialen Medien doch sehr von dem, was Politik leisten müsse. Sie müsse eben doch Interessen ausgleichen und Kompromisse finden. "In den sozialen Medien", so Habeck, "geht es vor allem um Daumen hoch und Daumen runter. Da ist wenig Raum für diskursives Abwägen."

Und was heißt das nun für Ihn? Und für die Grünen? "Bei allem Selbstbewusstsein wissen wir natürlich, dass der Kompromiss das Wesen von Demokratie ist. Und keine Partei kann, auch wenn sie noch so überzeugt ist von sich selbst, mit der Hybris arbeiten: Entweder läuft es so wie wir es wollen - oder der Tod." Harte Worte und jeder spürt, was der Grünen-Chef vermeiden möchte: dass irgendwer abhebt in seiner Truppe.

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