Süddeutsche Zeitung

Europawahl in Großbritannien:"Die perfekte Figur, um die Wut zu kanalisieren"

An diesem Donnerstag beginnt die Europawahl - ausgerechnet in Großbritannien. Ein britischer Demoskop erklärt, warum Nigel Farage mit seiner neuen "Brexit-Partei" die Umfragen anführt.

Interview von Zita Zengerling

An diesem Donnerstag beginnen die Europawahlen ausgerechnet in dem Land, das vor bald drei Jahren dafür gestimmt hat, die Europäische Union zu verlassen. Großbritannien ist politisch gelähmt, der Brexit musste mehrmals verschoben werden, nun steht sogar ein erneutes Referendum zur Debatte. Und so treten die Briten trotz allem noch einmal bei den Europawahlen an. Im Wahlkampf sorgte eine Partei für Aufmerksamkeit, die ein altbekannter Rechtsaußen neu gegründet hat: Die "Brexit-Partei", die Nigel Farage unter dem Motto "Leave means Leave" in den Wahlkampf führte, liegt Umfragen zufolge weit vor allen Konkurrenten. Stephan Shakespeare führt solche Umfragen durch. Der Brite ist Chef des internationalen Markt- und Meinungsforschungsinstituts YouGov. Er spricht darüber, was die Europawahlen für Großbritannien bedeuten und wie ein zweites Brexit-Referendum ausgehen könnte.

SZ: Theresa May hat die Möglichkeit eines zweiten Referendums angekündigt. Was würde Ihren Befragungen zufolge eine erneute Abstimmung über den Brexit ergeben?

Stephan Shakespeare: Unsere Umfragen zeigen eine leichte Mehrheit für einen Verbleib in der EU. 45 Prozent der Briten sagen, sie würden für "Remain" stimmen, aber die Stimmen für den Brexit sind ganz dicht daran. Das Land ist sehr gespalten.

Wie ist die Stimmung in Großbritannien vor der Europawahl?

Sie ist aufgeheizt. Es ist sehr ungewöhnlich, dass die Europawahl in Großbritannien so große Beachtung findet. Normalerweise ist die Wahlbeteiligung niedrig, aber diese Wahl gibt den Menschen eine Chance, zu zeigen, wie sie über den Brexit denken.

Kann die Europawahl schon als inoffizielles zweites Referendum gesehen werden?

Nein, das kann man so nicht sagen. Es gibt mehrere Parteien, die sich klar für einen Brexit aussprechen: Die Brexit-Partei, Ukip und ein paar kleinere. Es dominiert die Brexit-Partei. Für das Remain-Lager ist es komplizierter. Hier teilen sich die neue Partei Change UK und die beiden großen Pro-EU-Parteien, die Liberaldemokraten und die Grünen, die Stimmen auf. Die Konservativen von Theresa May und Labour werden bei dieser Wahl wahrscheinlich nur dritt- bis fünftstärkste Kraft. Bei diesen beiden Parteien wissen wir nicht, was die Stimmen bedeuten. Die konservativen Wähler sind eigentlich Pro-Brexit, aber einige von ihnen würden für den Verbleib in der EU stimmen. Viele Labour-Mitglieder sind gegen den Brexit, aber die Parteiführung setzt sich für ihn ein.

Was zeigt die Wahl dann?

Sie ist ein guter Maßstab für die Leidenschaft und die Emotionen in Sachen Brexit. Und ich kann sagen, wie die Wahl, unseren Umfragen zufolge, ausgehen könnte: Mit 34 Prozent wäre die Brexit-Partei stärkste Kraft, gefolgt von den Liberaldemokraten mit 17 Prozent und Labour mit 15. Dann kommen die Grünen mit elf Prozent und die Konservativen mit neun, Change UK würde vier Prozent bekommen und die Scottish National Party drei.

Was würde dieses Ergebnis für den Brexit und die Brexit-Verhandlungen bedeuten?

Wenn es so ausgeht, wie wir erwarten, bedeutet dass, das Nigel Farage wieder als eine Art Anführer des Brexit gesehen werden könnte. Davor fürchten sich die Konservativen. Sie sind gespalten: Die Pro-Brexit-Leute sind sauer, weil noch kein Deal zustande kam. Die Pro-EU-Leute sind sauer, weil es - zumindest bisher - kein zweites Referendum gibt. Viele Briten sehen die Konservativen kritisch. Aktuell fehlt eine starke Führung. Deshalb dürfte die Partei nach der Wahl einen sehr engagierten Brexit-Politiker brauchen, der vielleicht sogar einen harten Brexit vertritt. Das ist möglicherweise Boris Johnson.

Sie erwähnten auch Nigel Farage. Als Vorsitzender der Ukip war er 2016 Hauptkämpfer für den Brexit. Als es so weit war, gab er den Parteivorsitz ab und zog sich zurück. Jetzt holt er mit seiner neuen Brexit-Partei voraussichtlich die meisten Stimmen in der Europawahl. Warum ist Farage gerade so beliebt?

2016 dachte Farage, jetzt käme der Brexit. Aber er kam nicht. Die Wahlen geben ihm nun die Möglichkeit wieder anzugreifen. Er ist ein brillanter populistischer Politiker. Er hat es geschafft, eine neue Partei im Namen des Brexit zu gründen und konnte einen ganzen Teil der britischen Bevölkerung für sich gewinnen, zumindest in diesem Wahlkampf. Viele fühlen sich von der Politik im Stich gelassen: 52 Prozent haben vor drei Jahren für den Brexit gestimmt, aber es hat noch keinen Brexit gegeben. Viele dieser Wähler sind wütend. Und Farage ist die perfekte Figur, um diese Wut zu kanalisieren.

Aber was will Farage überhaupt im Parlament der EU machen, einer Institution, der er ja gar nicht angehören möchte?

Seine ganze Aufmerksamkeit wird zu Hause liegen: Ich denke, er wird versuchen, seine Partei zu stärken und der Anführer der Rechten zu werden. Sollte es Neuwahlen geben, könnte er möglicherweise an einer Regierung beteiligt werden. Ich glaube nicht, dass er sich besonders für die EU interessiert.

Bezüglich des Brexit-Referendums lagen viele Umfragen 2016 falsch, auch die von YouGov. Sind Sie sicher, dass Sie dieses Mal mit Ihren Vorhersagen richtig liegen?

Wir haben damals ungefähr 20 Umfragen während des Wahlkampfs gemacht und im Durchschnitt aller Ergebnisse lag das Brexit-Lager einen Prozentpunkt vorn. Nur: Bei der letzten Befragung vor der Abstimmung wendenten wir einen sogenannten "turnout-filter" an. Am Tag vor der Wahl erheben wir nicht nur, wie voraussichtlich gewählt wird, sondern auch, ob die potenziellen Wähler tatsächlich zur Wahl gehen. Und normalerweise - wobei wir nie wieder normalerweise sagen würden - ist die Wahlbeteiligung im Süden deutlich höher als im Norden und wohlhabendere Menschen gehen eher zur Wahl als weniger wohlhabende. Mit dem Filter war Remain zwei Prozentpunkte vorn. Am Tag der Wahl wurde dann aber besonders im Norden und in den Arbeitergegenden gewählt. Bei der Wahl 2017 waren unsere Vorhersagen dann aber präzise. Für die Europawahl sind wir daher zuversichtlich. Aber wenn man einen Wahlkampf hat, der so polarisiert ist wie dieser, kann man nie sagen, ob die Zahlen gut genug sind.

Wie erheben Sie Ihre Daten?

Interview am Morgen

Diese Interview-Reihe widmet sich aktuellen Themen und erscheint von Montag bis Freitag spätestens um 7.30 Uhr auf SZ.de. Alle Interviews hier.

Wir haben einen Online-Pool aus 500.000 Menschen in Großbritannien. Wir kennen Hunderte oder sogar Tausende demografische Daten von ihnen, nicht nur ihr Alter, ihre Ausbildung und ihr Einkommen. Wir wissen zum Beispiel auch, wo sie einkaufen gehen. Wir haben große Mengen an Hintergrundinformationen, die es uns erlauben, unsere Stichproben sehr akkurat zu ziehen.

Woher bekommen Sie die Daten?

Wir fragen. Wir führen 20 bis 30 Online-Befragungen am Tag durch. Politische Umfragen sind nur ein kleiner Teil unserer Arbeit, 98 Prozent ist für kommerzielle Kunden.

Ist es richtig, dass Sie die Teilnehmer Ihrer Umfragen bezahlen?

Ja, das sorgt für eine gute Qualität unserer Daten.

Man könnte das auch problematisch finden.

Ganz im Gegenteil. Bei Umfragen ist es immer am schwierigsten, ärmere Menschen zu finden, die mitmachen. Man läuft also Gefahr, dass die Mittelschicht überrepräsentiert ist. Insofern ist es ein guter Weg, einen Anreiz zu setzen, um das zu vermeiden. Man muss aber auch sagen, dass die Befragten nur etwa einen Euro für ihre Teilnahme bekommen. Sie machen also auch noch aus anderen Gründen mit. Man kann die Fragebögen ja auch interessant finden.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4456605
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/bepe/cat
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.