Süddeutsche Zeitung

Europawahl 2014:Mit Facebook gegen Scharfmacher

Beim Thema Europa kriegen viele die Krise. Bankenkrise, Schuldenkrise, Eurokrise. Wie soll sich da jemand für die Europawahl 2014 begeistern? Das Europaparlament versucht es mit einer Netzkampagne. Social Media soll Populisten wie Marine Le Pen und Geert Wilders ausbremsen.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Ein neugeborenes Baby wird auf den Bauch seiner Mutter gelegt. Ein Vater reicht seinem Sohn die Zahnbürste, am Wegesrand, aus demoffenen Kofferraum eines uralten Audi. Man sieht Pferdewägen, Müllberge, Börsenmakler und wütende Straßenproteste.

Ungeschönt zeigt der Werbefilm des Europaparlaments für die Europawahl 2014 die Realität des Kontinents im fünften Jahr der Schuldenkrise. Dass immer mehr der 500 Millionen EU-Bürger die Institutionen skeptisch sehen, können die PR-Berater nicht verschweigen. Doch der in 23 Sprachen verbreitete Slogan "Handeln. Mitmachen. Bewegen" der Werbekampagne soll deutlich machen, dass die Menschen zwischen Portugal und Estland, Irland und Griechenland viel zu verlieren haben, wenn sie nicht zur Wahl gehen. Wenn sie das Feld den Europagegnern und Euroskeptikern überlassen, die ganz sicher profitieren würden, würde die EU an Handlungsfähigkeit verlieren.

Die Angst vor einem großen Erfolg rechter und linker Anti-Euro-Populisten im Mai 2014 treibt viele Politiker um. Italiens Premier Enrico Letta warnte jüngst in der SZ davor, dass die Anti-Europäer mindestens ein Viertel der neuen Abgeordneten stellen könnten - eine Zahl, die EU-Abgeordnete wie der Grüne Jan-Philipp Albrecht für realistisch halten.

Als Institution ist das Europaparlament strikt neutral, weshalb Sprecher Jaume Duch Guillot betont, dass auch Europaskeptikern die Zukunft des Kontinents wichtig sei und diese legitime Meinungen vertreten würden. Aber es fällt doch auf, wie sehr das Europaparlament auf soziale Medien setzt, um vor allem junge Bürger zu motivieren und für das Projekt Europa zu werben.

Dass dies angesichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit in vielen Mitgliedsländern schwer werden wird, weiß Anni Podimata. Die Sozialdemokratin stammt aus dem krisengeplagten Griechenland und ist als Vizepräsidentin für die Informationspolitik der Volksvertretung zuständig. Stolz berichtet sie, dass sie sich in Washington bei Beratern von US-Präsident Obama über dessen Strategien informiert habe - und dass das Europaparlament bei Facebook schon mehr als eine Million Fans hat. Da schwingt mit: Der Kampf gegen die Politikverdrossenheit ist quasi schon gewonnen.

Das Ziel: Reden über Europa

"Mehr als eine Million Fans bei Facebook", dieser Satz ist oft von Politikern und Mitarbeitern des Europaparlaments zu hören. "Diese Wahl wird im Internet entschieden", betont Othmar Karas von der Österreichischen Volkspartei. Karas ist ähnlich wie knapp 60 Prozent der 766 Abgeordneten bei Twitter aktiv, ähnlich viele sind bei Facebook.

Daneben gibt es Twitter-Accounts des Europaparlaments in allen 23 Amtssprachen - ein guter Service, denn in den Tiefen des Web-Angebots verliert jeder Normalbürger den Überblick.

4,4 Millionen Euro fließen laut Karas in die Online-Kommunikation: So soll dargestellt werden, wie transparent die "Bürgerkammer" bereits ist. Alle Plenar- und Ausschusssitzungen werden live gestreamt, das eigene Portal "Newshub" bündelt die Social-Media-Aktivitäten sämtlicher Abgeordneten. Auswahl nach Sprache, Fraktionszugehörigkeit oder Thema - das alles klappt reibungslos.

Egal ob Journalist oder Bürger: Wer wissen will, was im angeblich so realitätsfernen Brüssel geschieht, der kann sich am heimischen Computer einfach informieren. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, eine Diskussion über Europa, die Wahl im Mai 2014 und die damit verbundenen Themen auszulösen. Mehr als eine Million Facebook-Fans sind nur dann nützlich, wenn diese Videos oder Fotos teilen oder etwas zur Wahl posten.

Also setzt Steve Clark, einer der PR-Berater des Parlaments, auf Viralität: Was zur Diskussion über Europa anregt, wird vom Parlament weiterverbreitet. Auch wenn es nicht selbst produziert ist oder auf den ersten Blick wenig schmeichelhaft erscheint. "Wir sind nicht sexy und wir wissen es", heißt es in einem alternativen Wahlwerbespot, den eine Brüsseler Kommunikationsagentur erstellt hat.

Der Clip macht deutlich, was das EU-Parlament alles bewirken kann: Es kann nicht den Krieg in Syrien stoppen oder Sexismus in der Gesellschaft abschaffen, aber in Sachen Daten- und Verbraucherschutz bewegt sich viel.

Gleiches gilt für die Website "Vote Match Europe", eine Art Wahlomat zur Abstimmung im Mai 2014, oder die Serie "Eurobubble", die augenzwinkernd über das Leben in der Brüsseler Blase berichtet.

Am 1. Dezember startet die große Werbekampagne in allen 28-Mitgliedsländern, in der es auch klassische Plakate und TV-Spots geben wird. Daneben werden Fotos, Infografiken oder Videos für Online-Medien angeboten, damit diese über die Wahl berichten und mehr Bürger abstimmen.

Besonders viel wird von den Kandidaten abhängen: Sind sie bereit, die Social-Media-Kanäle zu nutzen, um mit den Bürgern zu diskutieren, wenn sie angesprochen werden? "Die Menschen wollen nicht mit EU-Beamten reden, sondern mit den echten Akteuren, also den Politikern", sagt Parlamentssprecher Duch.

Dass ein Spitzenpolitiker wie EU-Ratspräsident Herman van Rompuy bei Facebook seine Haiku-Gedichte veröffentlicht oder Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen dort Babyfotos postet, gibt ihnen einen persönlicheren Touch. "Mehr Menschlichkeit", diesen Tipp gebe sie Politikern für deren Auftritt im sozialen Netzwerk, sagt die Facebook-Lobbyistin Elizabeth Linder.

Andere wie die Schwedin Amelia Andersdotter sehen diese Inszenierung kritischer. "Es ist ja schön, dass van Rompuy Haikus mag, aber dadurch erfahre ich nichts über seine Vision zu Europa. Das überzeugt junge Leute nicht, sich zu engagieren oder zu wählen." Die 26 Jahre alte Abgeordnete der Piraten klagt über einen Mangel an Vision und Mut: Die Bürger wüssten nicht, was die Politiker mit Europa vorhätten. "Durch Status-Updates entsteht kein grand plan", so Andersdotter.

Ihr bereitet es vielmehr Sorge, dass das Vertrauen in EU-Institutionen so niedrig wie nie zuvor ist, obwohl die Abgeordneten doch viel besser als früher mit den Bürgern kommunizieren könnten. Dabei gibt der Vertrag von Lissabon den Bürgern mehr Mitspracherechte: So soll bei der Auswahl des Kommissionspräsidenten künftig das Wahlergebnis berücksichtigt werden, weshalb jede Parteienfamilie einen Spitzenkandidaten kürt.

Die Schwedin Andersdotter hat die Erfahrung gemacht, dass ihre Twitter-Aktivitäten ihr vor allem helfen, sich mit Aktivisten auszutauschen - und den Kontakt zu Journalisten zu halten. Mit Wählern habe sie via Twitter bisher nicht viel zu tun, gibt die junge Schwedin offen zu.

Auch die Gegenseite ist im Netz aktiv

Wie wichtig es ist, dass die EU-Abgeordneten Social Media nicht nur für gute Eigen-PR nutzen, sondern um möglichst viele Menschen für das Projekt Europa zu begeistern, unterstreicht eine Gegen-Initiative. Der Niederländer Geert Wilders und die Französin Marine Le Pen, zwei der bekanntesten Rechtspopulisten, arbeiten gerade an einem länderübergreifenden Anti-EU-Bündnis.

Auch dabei spielt Social Media eine wichtige Rolle. Bei Twitter hat die Europaabgeordnete Marine Le Pen vom Front National bereits knapp 200.000 Follower. Das sind drei Mal so viel wie Martin Schulz, der Präsident des EU-Parlaments. Die Auseinandersetzung im Netz hat gerade erst begonnen.

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