Wenn Rating-Agenturen Politik machen, sieht das so aus: Die Bonitätsprüfer setzen direkt vor einem EU-Gipfel, der als entscheidend für die Zukunft der Gemeinschaft gilt, kurzerhand alle Euro-Staaten auf eine rote Liste - außer Griechenland und Zypern, deren Kreditwürdigkeit schon im Keller ist. Dazu gibt es eine klare Liste von Aufgaben, die von den europäischen Politikern auf dem anstehenden Gipfel nun - bitteschön - abzuarbeiten ist.
Und für den Fall, dass das nicht passiert, drohen die angeblich unabhängigen Prüfer, die Kreditwürdigkeit herabzustufen, was dann dazu führt, dass die Regierungen immer mehr Geld brauchen, um ihre Schulden zu refinanzieren. Und irgendwann pleite sind. So weit, so bekannt.
Eigentlich müssten die Politiker jetzt schimpfen, schreien, poltern, von Erpressung reden, strengere Regeln fordern - ganz so, wie sie es bisher immer getan haben, wenn es schlechte Noten gab. Doch dieses Mal gibt es auch andere Reaktionen. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel und Staatspräsident Nicolas Sarkozy am Montag im Élysée zu Mittag speisten, wussten sie schon, was die amerikanische Ratingagentur Standard & Poor's plante: nämlich den Euro-Klub komplett auf die rote Liste zu setzen.
Sie wussten auch, warum. Der ständige Streit darum, ob nun der Euro-Rettungsfonds oder gemeinsame Euro-Bonds oder die Europäische Zentralbank den Euro-Klub stabilisieren sollen, lässt jedes Vertrauen bröckeln. Hinzu kommen hohe Schulden, der drohende wirtschaftliche Niedergang und der ständige Ärger mit den Banken. Kurz, die Bonitätsprüfer sprechen genau die Probleme an, die auch die europäischen Staats-und Regierungschefs selbst seit zwei Jahren umtreiben.
Demonstrativ verkündete Entschlossenheit
So ist es nicht verwunderlich, dass Merkel und Sarkozy schulterzuckend "zur Kenntnis" nahmen, was sie ohnehin wussten. Und dass es in Brüssel ruhig blieb; neue Vorschläge, mit denen die Macht der Agenturen gebrochen werden sollen, sind längst gemacht. Ansonsten sind alle damit beschäftigt, einen EU-Gipfel vorzubereiten, dessen Ergebnisse so unvorhersagbar sind wie selten zuvor. Sicher ist nur, dass an diesem Mittwochnachmittag die Sherpas tagen werden, um die Stimmungen in allen Regierungen auszuloten.
Sicher ist auch, dass der Gipfel selbst am Donnerstag mit einem Abendessen aller 27 Staats- und Regierungschefs in Brüssel beginnt und bis Freitag terminiert ist. Doch angesichts der von Merkel und Sarkozy in Paris demonstrativ verkündeten Entschlossenheit, so lange zu tagen, bis feststehe, welche Regierungen sie auf dem Weg in eine Fiskalunion begleiten wollen, ist es leicht möglich, dass der Gipfel eben doch länger dauert - und dass am Ende nur noch Euro-Länder am Tisch sitzen, entweder alle 17 oder auch nur einige.
So kurios es klingen mag, aber in gewisser Weise spielt die jüngste Drohung der Ratingagentur dem deutsch-französischen Duo und dem gesamten Euro-Klub in die Hände. Denn der latente Hass auf die Bonitätsprüfer, der angestaute Ärger über ungefragte und oft als ungerecht empfundene Noten kann den Klub vereinen in dem Bestreben, endlich einen gemeinsamen Weg aus der dramatischen Schulden- und Vertrauenskrise zu finden. Dadurch, dass die Ratingagentur alle Euro-Länder bedroht, zwingt sie diese regelrecht, ihre Interessen zu bündeln und gemeinsam gegen den vermeintlichen Feind zu kämpfen - um den Preis des Überlebens der Gemeinschaft.
Denn die Ankündigung, die Kreditwürdigkeit aller Euro-Länder um eine oder sogar zwei Noten herunter zu stufen, würde sich nicht nur auf die nationalen Haushalte auswirken, weil sie wohl höhere Zinsen für ihre Schuldscheine zahlen müssten. Viel dramatischer wäre, dass die Herabstufung das gesamte Konzept des Euro-Klubs zur Rettung klammer Partner und zur Errichtung eines Schutzwalls um die Gemeinschaft sofort implodieren ließe. Denn das Konzept baut die Euro-Rettung grundsätzlich auf der Bonitäts-Bestnote AAA einiger Länder, darunter die beiden stärksten Volkswirtschaften Frankreich und Deutschland, auf. Um es bildlich auszudrücken: Nehmen die Bonitäts-Prüfer Paris und/oder Berlin eines der drei A weg, steht der Euro-Klub nackt da.
Das war die Idee: Um einzelnen Ländern im Notfall zu helfen und damit zu verhindern, dass die finanziellen Sorgen eines Partners die gesamte Gemeinschaft gefährden, schufen die Euro-Länder einen gemeinsamen Finanztopf, den Euro-Rettungsfonds EFSF. Dieser sollte bedürftigen Ländern gegen strenge Auflagen Kredite gewähren. Das Geld dafür sollte über gemeinsam ausgegebene Schuldscheine, die von allen 17 Euro-Ländern anteilig besichert werden, am Finanzmarkt aufgenommen und mit einem Zinsaufschlag an das jeweilige Land weitergereicht werden. Auf diese Weise haben Irland und Portugal Hilfen bekommen.
Das klingt einfach, ist aber im Detail hoch kompliziert. Denn um überhaupt große Investoren zu finden, die Schuldscheine des EFSF kaufen, brauchte dieser die Bonitäts-Bestnote. Und diese gab es wiederum bisher nur, weil sechs der Euro-Länder selbst die drei begehrten AAA haben - und weil diese darüber hinaus noch zusätzliche Garantien abgaben.
Logisch ist also: Verlieren die Länder ein A, verliert es auch der EFSF. Und weil die großen Investoren in Zeiten der Krise nur Anlagen mit Bestnote kaufen dürfen, verlöre der EFSF mit der Bestnote auch seine besten Kunden und wäre praktisch nicht mehr arbeitsfähig. Da auch der ab Ende 2012 geplante ständige Rettungsfonds ESM auf diesem Konzept beruht, stünde der Euro-Klub bei einer Herabstufung seiner Kreditwürdigkeit ganz ohne Rettungskonzept da. Er müsste dann wohl in größter Not das tun, was Deutschland nicht will - die Notenpresse der Europäischen Zentralbank anwerfen.
Noch haben die europäischen Hauptstädte es selbst in der Hand, sich aus dem Schuldensumpf zu retten. Der Auftritt von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy in Paris ließ neue Hoffnung keimen. Die Warnung von Standard&Poor's kann diese Hoffnung nun sogar verstärken. Dass die Italiener mitten im gefühlten Vor-Gipfel-Chaos des Dienstags so billig wie seit langem nicht mehr frisches Geld am Finanzmarkt bekamen, zeigt: Auch die Investoren hoffen.