Süddeutsche Zeitung

Europas Staaten:Europa muss sich in Polen einmischen

Dies ist nicht nur ein Gebot der Geschichte, sondern eine souverän getroffene Entscheidung zum Wohle aller.

Von Stefan Ulrich

Der wertvollste Schatz der Staaten ist ihre Souveränität. Das Recht, unabhängig von anderen auf seinem Territorium zu herrschen, macht einen Staat erst so richtig zum Staat. Ein Staat ohne Souveränität wirkt wie eine Batterie ohne Energie. Daher reagieren Staaten so gereizt, wenn sie den Eindruck haben, jemand mische sich in ihre inneren Angelegenheiten ein.

Derzeit hat Polen dieses Gefühl. Der Grund: Die Europäische Union hat gerade, zum ersten Mal überhaupt, ein Verfahren gegen einen EU-Mitgliedstaat eingeleitet, weil er im Verdacht steht, Grundwerte der Gemeinschaft zu missachten. Die rechtskonservative Regierung in Warschau muss sich vor der EU rechtfertigen, weil das polnische Parlament neue Regeln für das Verfassungsgericht und die Medien des Landes beschlossen hat. Am Ende der Prozedur könnte Polen sogar sein Stimmrecht in Brüssel verlieren. Kein Wunder also, wenn nun der Präsident und die Premierministerin auf die Souveränität ihres Landes pochen und Kritik als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Polens zurückweisen.

Die EU darf sich nicht nur in Polen einmischen - sie muss

Der Streit ist ein spektakuläres Beispiel dafür, wie unsouverän die Staaten in der EU geworden sind. Stolze Länder wie Italien und Frankreich müssen zittern, ob Brüssel ihre Haushalte billigt. Griechenland bekommt bis ins Detail vorgeschrieben, wie es Staatsbesitz verkaufen oder das Rentensystem reformieren soll. Das Argument der linken Regierung Tsipras, die griechischen Bürger - immerhin der Volkssouverän - hätten gegen die EU- Sparpolitik gestimmt, bewirkte nichts.

Dabei gehört die Staatensouveränität zu den Errungenschaften europäischer Geschichte. Der Westfälische Friede, der 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendete, verhalf dem Gedanken zum Durchbruch: Die Staaten sind frei und gleich und haben das Recht, ihre inneren Angelegenheiten ohne Einmischung von außen zu gestalten. Dieses Prinzip prägte die Welt und führte dazu, dass heute ungefähr 200 theoretisch souveräne Staaten fast die ganze Erdoberfläche bedecken.

Die EU genießt längst nicht mehr so viel Vertrauen wie der Nationalstaat

Dem Philosophen Jean Bodin wird der Satz zugeschrieben: "Zum Wesen der Souveränität gehört, dass sie absolut und ewig uneingeschränkt ist nach Macht, Aufgabe und Ziel." Die Regierungen in Warschau oder Athen können darüber nur lachen. Nicht nur sie, sondern auch viele Bürger in Europa verdrießt es, dass die Souveränität ihrer Staaten schrumpft, weil die EU immer mehr gestalten darf. Europa aber genießt bei vielen Menschen längst nicht (mehr) so viel Vertrauen wie ihr Nationalstaat. Dies ist ein Grund dafür, dass populistische Bewegungen wie der französische Front National oder die polnische Pis-Partei derzeit so viel Zuspruch finden. Sie wollen Europa schwächen oder ganz abschaffen, um ihre Staaten wieder souverän zu machen.

Die Neo-Nationalisten übersehen jedoch zweierlei: Erstens geht auch die Macht der EU vom Volk aus. Die Bürger bestimmen ihre Regierungen, und diese regieren im Europäischen Rat die Union. Zweitens ist die Zeit der alten Staatenherrlichkeit vorbei. Denn die Weltkriege und der Zivilisationsbruch durch Nazi-Deutschland zeigten: Auch Staatsmacht braucht Grenzen. Daher schrieben die 1945 gegründeten Vereinten Nationen ein Gewaltverbot fest. Deshalb wurden Institutionen und Verträge geschaffen, die die Staatensouveränität einschränken. Viele europäische Länder gingen einen Schritt weiter: Sie übertrugen einen Teil ihrer Souveränität freiwillig auf die EU, damit sie zum Wohl aller ausgeübt wird.

Das Prinzip der Nichteinmischung ist überholt

Dahinter steht nicht nur das Menetekel der Kriege, sondern auch die Erkenntnis, dass Staaten in der Welt von heute allein überfordert sind. Globale Konzerne wie Google, omnipräsente Terrorgruppen wie der Islamische Staat oder Probleme wie der Klimawandel zwingen die Staaten dazu, sich zu größeren Einheiten zusammenzuschließen. Die EU ist dabei ein besonders weit gediehener Versuch, Souveränität zeitgemäß auszuüben.

Dies verkennen die Neo-Nationalisten: Wer Europa schwächt, schwächt Polen, Griechenland oder Deutschland. Die EU-Staaten sind derart aufeinander angewiesen, dass das Prinzip der Nichteinmischung überholt ist. Europas Verträge schreiben vielmehr eine Pflicht der EU vor, gegen Staaten einzuschreiten, die das gemeinsame Recht verletzen. Wenn eine polnische Regierung den Rechtsstaat aushöhlt oder griechische Kabinette ihr Land überschulden, geht das nicht nur Polen oder Griechen sondern alle Europäer etwas an. Daher haben sie alle das Recht mitzureden, sich einzumischen. In diesem Licht ist der heftige Streit im heutigen Europa nicht nur negativ zu sehen. Er zeigt auch, wie sehr sich der Kontinent bereits als Einheit fühlt.

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SZ vom 15.01.2016/cmy
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