Europas Linke:Wie der Süden Europas den "Tod durch Sparen" verhindern will

People take part in a rally called by Podemos, at Madrid's Puerta del Sol

"Wir sind alle Griechenland", lautet ein populärer Slogan in Spanien. Wie hier in Madrid, fühlen sich viele Spanier zu Protesten ermutigt.

(Foto: Reuters)

Griechenland, Spanien - und dann? Die Wut über die Folgen des Sparens ergreift am Mittelmeer ein Land nach dem anderen. Und sie schafft überraschende Allianzen.

Von Sebastian Schoepp

Ein neues Wort hat Spanien erobert: austericidio, zu Deutsch: Austerizid oder: Tod durch Sparen. Die Aufnahme des Begriffs ins Wörterbuch der Real Academia, der Königlichen Sprach-Akademie, stehe zweifellos unmittelbar bevor, schrieb kürzlich die Zeitung El País, so allgegenwärtig sei er im politischen Diskurs des Landes.

Der "Spartod" geistert durch Blogs und Foren, er droht von Plakaten bei Demonstrationen in Madrid. Kürzlich forderte der frühere Ministerpräsident und heutige politologische Vortragsredner Felipe González bei einem Kongress europäischer Sozialisten, Europa müsse zugunsten seiner Werte den Austerizid im Süden aufhalten.

Seit dem Wahlsieg von Syriza in Griechenland hat der Gebrauch des Begriffs in Spanien explosionsartig zugenommen. Syriza-Chef Alexis Tsipras goss schon vor seiner Wahl Öl ins Feuer, als er in einem pathetischen Manifest in El País forderte, die Bürger des ganzen Südens müssten zusammenstehen und "aus dem Dunkel der Austerität aufstehen, hin zum Licht der Demokratie, der Solidarität und des nachhaltigen Fortschritts".

Die "Allianz des Südens", die hier aufscheint, ist ein ganz und gar linkes Projekt, das bei der Syriza-ähnlichen Partei Podemos ("Wir können") Widerhall findet, aber auch bei Intellektuellen, Aktivisten, Gewerkschaftlern, Bürgergruppen und Bloggern, bei all jenen eben, die die Krise zu großer Aktivität und angestrengtem Nachdenken über einige wichtige Fragen angestiftet hat: Wie wollen wir leben? Nach den Effizienzkriterien des Nordens? Oder gibt es doch Alternativen?

Abkehr vom "Merkelismus"

Kürzlich fand das "Erste Forum des Südens" in Barcelona statt. Ergebnis war ein "Manifest von Barcelona", in dem etwas schwärmerisch ein südlich inspirierter "New Deal für Europa" gefordert wurde, also eine Abkehr vom "Merkelismus". Damit ist das Prinzip gemeint, wonach die Staaten die Banken retten, damit diese die Wirtschaft retten, was sie nach Ansicht der Südeuropäer aber nicht tun.

In populären sozialen Netzwerken Spaniens wie menéame.net wird nun die Forderung lauter, es sei Aufgabe des Südens, die Systemfrage in der EU zu stellen. Der Blog ctxt.es, gegründet von krisenbedingt entlassenen spanischen Starjournalisten, spricht von einer "Rebellion an der südlichen Peripherie". In einem Editorial heißt es: "Die Misshandlung" von Ländern wie Griechenland, Zypern, Portugal oder Spanien habe einen "Bruch, fast die Zerstörung eines bewährten Verhandlungsmodells in Europa mit sich gebracht". Vor allem die Dialogfähigkeit des Nordens wird bezweifelt.

Der Blog holt sich sogar Noam Chomsky aus den USA zu Hilfe, der in einem Interview sagt, Syriza und Podemos seien "die Reaktion auf den neoliberalen Angriff". Die Zeitschrift Politica Exterior fragt ganz offen: Wird Tsipras gelingen, woran François Hollande und Matteo Renzi gescheitert sind: das "Armdrücken mit Deutschland" zu gewinnen? In jedem Fall seien in Südeuropa "neue Zeiten" angebrochen.

Der Philosoph Agamben hat den Aufstand heraufbeschworen

Diese Zeiten hatte der italienische Philosoph Giorgio Agamben bereits vor zwei Jahren heraufbeschworen, als er eine Allianz der "lateinischen" Länder forderte und damit beträchtliche Missstimmigkeiten auslöste. Agamben schlug in einem von großen Zeitungen in Frankreich, Spanien und Italien veröffentlichten Manifest vor, ein "lateinisches Reich" solle sich deutscher Bevormundung in der Euro-Krise entgegenstellen.

"Nicht nur ergibt es keinen Sinn, von einem Griechen oder einem Italiener verlangen zu wollen, dass er wie ein Deutscher lebt, doch selbst wenn das möglich wäre, würde es zum Verschwinden eines Kulturguts führen, das vor allem in einer Lebensform liegt", hieß es dort.

Aus den konservativen Blättern des Hegemons im Norden schallte sogleich der Vorwurf zurück, Agamben sei ein deutschfeindlicher Anachronist, der aufwiegele und zurück zur Siesta wolle. Der Philosoph antwortete, das Ziel seiner Kritik sei nicht eigentlich Deutschland gewesen. Aber leider stehe Berlin nun mal für die Unfähigkeit, Europa über den rein wirtschaftlichen Standpunkt hinaus zu denken. Nun sei der Moment gekommen, "die menschlichen Handlungen jenseits dieser einzigen Dimension neu zu organisieren."

Morin glaubt an die Stärke südlicher Kulturen

Nur: Wie soll diese Organisation aussehen? Die meisten Ausführungen dazu bewegen sich eher im Schöngeistigen. Und das liegt gewissermaßen in der Natur der Sache, wenn man dem Franzosen Edgar Morin glauben darf. Morin ist ein Weggefährte von Stéphane Hessel, dessen Manifest "Empört euch" der südlichen Protestbewegung vor Jahren das erste Stichwort gab.

Der greise Morin, Veteran der Résistance, tritt in seinem Essay "Denken des Südens" ein für eine Wiederentdeckung eines gemeinsamen geistigen und kulturellen Erbes in Europa, das seiner Ansicht nach in der mediterranen Kultur begründet liegt. Die Stärke der südlichen Kulturen liege darin, so Morin, den Wert des Lebens nicht nur quantitativ zu bemessen, wie es der angloamerikanische Kapitalismus tue, sondern es von seiner Qualität her zu definieren.

Als südliche Werte nennt er Empathie, Familiensinn, Zwischenmenschlichkeit, Ästhetik, Gastfreundschaft, Lebensbejahung vor Effizienz - alles Leistungen, die leider abseits des Tourismus schwer zu kapitalisieren seien, wie Morin selbst einräumt. Deshalb sei der Süden im Konkurrenzkampf der Märkte unterlegen. Morin glaubt aber fest, der Süden könnte dem Norden viel mehr geben, als man dort denke. Denn in Wahrheit sei nicht das Modell des Südens bankrott, sondern das des Nordens.

Der Begriff "Lateineuropa" wird wieder hochaktuell

Dass der Süden mehr ist als der "Noch-Nicht-Norden", wie es der italienische Soziologe Franco Cassano ausdrückt, ist ein Gedanke, der die Schriften südländischer Denker seit Beginn der Euro-Krise durchzieht. Die Idee einer südlichen Allianz zur Verteidigung eines mediterranen Lebensstils ist freilich viel älter.

Als Großbritannien und die USA im 19. Jahrhundert ansetzten, die Welt mit Technik, Truppen und Kapital zu erobern, formierte sich in Frankreich Widerstand. François Pierre Guillaume Guizot, Kabinettschef des Bürgerkönigs Louis Philippe, forderte, eine race latine müsse sich der angloamerikanischen Vormacht entgegenstellen.

Die intellektuelle Ausformulierung dieser These übernahmen Alexis de Tocqueville und der Ökonom Michel Chevalier. Sie erfanden zwei Begriffe: "Lateinamerika" sollte in der Neuen Welt ein Gegengewicht zu Washington bilden. Analog dazu dachte sich Chevalier den Begriff "Lateineuropa" aus für ein Gebilde der romanischsprachigen Länder, das Londons Siegeszug in Wirtschaft und Kolonien entgegentreten sollte - beides natürlich unter französischer Führung.

Dabei ging es nicht nur um Einflusssphären, sondern gezielt um die Rettung eines empathischen, die Gemeinschaft betonenden südlichen Kulturmodells vor dem protestantisch-puritanischem Effizienzstreben des Nordens.

Während "Lateinamerika" Weltkarriere machte, verschwand "Lateineuropa" als geostrategischer Begriff. Doch die Idee wird gerade wieder hochaktuell, wobei die Anführerschaft diesmal ein nicht-lateinisches Land, nämlich Griechenland, übernommen hat - und der Gegner nicht mehr Großbritannien heißt, sondern Deutschland.

Venedig blickte einst so arrogant auf Hellas wie die EU-Troika. Heute ist Syriza das Vorbild

Das orthodoxe Hellas war nie Teil "Lateineuropas", ja, der Blick etwa der Kolonialmacht Venedig auf die Bewohner seiner Besitzungen am Peloponnes war von ähnlicher Herablassung geprägt wie heute der der EU-Troika. Dass Griechenland von der Peripherie ins Zentrum rückte, hat damit zu tun, dass dort krisenbedingt die Dynamik der schöpferischen Unvernunft am größten ist.

Syriza ist die historische Chance bewusst. Kürzlich reiste Syriza-Generalsekretärin Katerina Sergidou durch Spanien und verkündete: "Unsere wahren Alliierten sind die Bürger des Südens. Wir brauchen die Hilfe des spanischen Volks."

Damit kann Syriza in ungekannter Weise rechnen. Unter der Rubrik "Für den Wandel in Griechenland" unterzeichnete eine Reihe von Sprechern der spanischen Bürgerbewegung, darunter Ada Colau von der Plattform gegen Wohnungsräumungen und Bürgermeisterkandidatin in Barcelona, einen Aufruf.

In dem heißt es: Griechenland habe sich "zum Laboratorium der politischen und wirtschaftlichen Eliten Europas entwickelt, die Elend und Überdruss in alle Ecken Südeuropas getragen" hätten. Überall in Südeuropa sind in letzter Zeit ähnliche Internetsolidaritätsseiten entstanden, etwa das italienische Atene Calling, das französische okeanews oder in Spanien info-grecia.com. In Lissabon gibt es immer wieder Demonstrationen für Griechenland.

Spektakuläre Kehrtwende

In Spanien ist das eine ziemlich spektakuläre Kehrtwende, denn jahrelang hatten die Spanier betont: Wir sind nicht Griechenland. Nun heißt ein populärer Tweet-Account "Todos somos griegos" - Wir sind alle Griechenland! Das allerdings nur auf der Linken. Die Altparteien, vor allem die regierenden Konservativen, fürchten nichts mehr als einen Griechenlandeffekt beim Wähler.

Die Sozialisten haben berechtigte Angst, das Schicksal der griechischen Sozialdemokraten zu erleiden. Sollte Podemos in Spanien triumphieren, dann ist nicht ausgeschlossen, dass auch der bislang EU-folgsame Italiener Renzi auf den Südexpress aufspringt. "Lateineuropa" wäre nicht nur als intellektuelles Konzept, sondern auch politisch fast komplett.

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