Süddeutsche Zeitung

Europas Außengrenzen:Auf der Suche nach Geborgenheit

Achim Engelberg hat ein faszinierendes Reisebuch über die Menschen am Rande Europas komponiert, analytisch scharf und doch voller Empathie.

Von René Wildangel

Mit Büchern, die aus bereits erschienenen Reportagen zusammengestellt werden, ist das so eine Sache. Im schlimmsten Fall sind sie holprig neu redigiert und lieblos zusammengeflickt. Im besten Fall entsteht etwas Neues. Die Gefahr, dass man als Leser Stückwerk begegnet, bleibt immer gegeben, so auch bei Achim Engelbergs Buch "An den Rändern Europas". Aber der Autor macht daraus kurzerhand ein Konzept: "Aus Begegnungen und Beobachtungen, Erinnerungen und Gedanken versuche ich, ein Destillat zu gewinnen. Das Patchwork aus Minderheiten und Konflikten lässt sich nicht verbinden."

Es lässt sich nicht verbinden, fügt sich aber bei Engelberg doch gelungen zu einem großen Ganzen zusammen: Engelberg reflektiert über die Ränder Europas und ihre oftmals marginalisierten Bewohner, aber auch über die privilegierten Zentren des Kontinents: Letztere bestimmen das Schicksal, durch ihren Wohlstand, der auch auf vergangener und gegenwärtiger Ausbeutung beruht, und als vermeintliche Sehnsuchtsorte eines besseren Lebens. Immer verschränkt sind diese Geografien mit der unfassbaren Gewalt, die im 20. Jahrhunderts überwiegend von den Zentren ausging und mit den Migrationsbewegungen, die sie auslöste. In diesem Reisebuch verarbeitet Engelberg Besuche im Osten, Süden und Südosten des Kontinents.

Überall wird die Spaltung der Gesellschaften sichtbar

Nach einer Reportage aus der Ukraine besucht er die einst multikulturelle Metropole Thessaloniki im Norden Griechenlands, reist weiter nach Skopje und in den Kosovo, nach Belgrad und Zagreb, die Türkei, Marokko und widmet ein Kapitel dem Grauen im Mittelmeer, wo heute täglich Menschen ertrinken. Überall beobachtet er Symbole einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaften rund um Europa und seine "Übergangsregionen", die durch neue geostrategische Verschiebungen der Weltmächte USA, China und Russland, aber auch die Türkei befördert wird. Darunter liegen die Umbrüche, die durch das Ende der Kolonialreiche und den Zerfall der Sowjetunion ausgelöst wurden und neue Migrationsbewegungen in Gang setzten. Und mit dem Klimawandel, auch darauf weist Engelberg mehr als einmal hin, steht ein weiterer großer globaler Umbruch bevor. Ein eigenes Kapitel, das sich dem Thema noch eingehender widmet, hätte dem Buch gut zu Gesicht gestanden.

Aber Engelbergs Buch ist kein Reisebuch nach dem Motto "Einmal rum um Europa." Engelberg schöpft aus dem Vollen. Er verarbeitet Reisen, Erinnerungen, Notizen und Reportagen aus mehreren Jahrzehnten und schildert immer wieder seine unmittelbaren oder mittelbaren Begegnungen mit den unterschiedlichsten Protagonisten von Flucht und Migration, die infolge der dramatischen Veränderungsprozesse ihre Heimat verlassen mussten, sowie mit den mutigen Menschen, die sich dem entgegenstellen. Und das zumeist lange vor Beginn der aktuellen sogenannten "Flüchtlingskrise", die auch Engelberg nur in Anführungsstrichen setzt. Nicht zuletzt in seiner eigenen Familienbiografie spiegelt sich das Thema des Buches wider, sein Vater Ernst konnte sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis ins türkische Exil retten - über die "Balkanroute", wie Engelberg süffisant bemerkt.

"Wir zerstören Existenzen", sagt der Beamte

Seine physische und gedankliche Reise beginnt mit einem Prolog, der Beschreibung der Familie Nemtsov aus Russland, die nach der Wende 1992 als sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland kommt, mit zwölf Koffern und großen Erwartungen nach Jahren der Verfolgung und antisemitischen Ausgrenzungen; aber schon bald sitzen sie desillusioniert in einer beengten Flüchtlingsunterkunft und müssen miterleben, wie in Rostock-Lichtenhagen die rassistische Gewalt in Deutschland erschreckende Ausmaße annimmt. Engelberg rekapituliert die deutsche Debatte zu Migration und Flucht in Gesprächen mit Wissenschaftlern und der Begegnung mit einem ehemaligen Beamten einer Ausländerbehörde. Der ist von seiner ehemaligen Aufgabe, zu entscheiden, ob Menschen in Deutschland bleiben können oder abgeschoben werden, regelrecht traumatisiert. "Wir zerstören Existenzen", sagt er, "ich sehe mich wie den Mann an der Rampe."

Nicht selten setzt Engelberg die Grauen der Vergangenheit in Bezug zu den aktuellen. Dabei geht es niemals um Gleichmacherei oder gar Verharmlosung, sondern um einen moralischen Kompass, der in Kenntnis der Geschichte äußerst fein geeicht ist. Es sei "zu befürchten, dass nach dem Ende des aktuellen Schreckens wieder viele nichts gewusst haben wollen", schreibt Engelberg angesichts der europäischen Abschottung gegen jene Menschen, die vor Verfolgung fliehen und die Verantwortung für tausendfachen Tod auf dem Mittelmeer. Eine Bankrotterklärung, die es Engelberg schwer macht, noch eine positive Kraft in der EU und ihren Erweiterungsfantasien zu entdecken, in denen er ein "Mantra wie die Zweistaatenlösung" sieht. Gegen den Aufstieg Chinas sieht er ein von ökonomischen Interessen und politisch gespaltenes Europa zudem schlecht gewappnet.

Schicht um Schicht durchpflügt Engelberg die Geschichte bis zur Gegenwart und schält ihre biografischen, regionalen und nationalen Verflechtungen heraus. Nicht selten verbunden mit den Orten, die die unvorstellbaren Gewalttaten des 20. Jahrhunderts, ethnische Säuberungen und Pogrome, Genozide und der Shoah markieren. In Riga wandelt er auf den Spuren der Holocaust-Überlebenden Valentina Freimane, die mit 96 Jahren 2018 in Berlin stirbt. Ihre Familie wurde von den Nazis ermordet und von den Sowjets verschleppt. Sie ist nach der Wende wie die Nemtsovs als Kontingentflüchtling nach Deutschland gekommen, im Rahmen einer der wenigen legalen Einwanderungsmöglichkeiten die Deutschland verspätet für jene schuf, die es einst verfolgte.

Viele Exkurse, viele Fragmente - und doch etwas Ganzes

Zum Einwanderungsland war Deutschland schon längst geworden, ob deutsche Politiker es wahrhaben wollten oder nicht. Das dokumentiert Engelberg mit einem Gang über die Berliner Sonnenallee und ihre verflochtenen Biografien von Rückkehrern und Einwanderern vorwiegend aus dem "Nahen Osten". Seine Erzählung wechselt manchmal sprunghaft, aber immer faszinierend zwischen Familienerinnerungen und den großen Erzählungen von Volk und Nation. Beide bleiben fragmentarisch - und "verschweigen Blaubarts Zimmer, wo die Leichen liegen".

Sein Buch ist im besten Sinne aufklärerisch, voller literarischer und historischer Bezüge, die manchmal in so dichter Abfolge zusammengeschnitten werden, dass einem schwindelig werden kann. Die persönlichen Begegnungen schildert Achim Engelberg trotz der vielfachen Exkurse stets voller Wertschätzung - bei seinen Recherchen geht es ihm immer auch darum, den Menschen kennenzulernen. Auf ihren Spuren unternimmt er seine spannenden Reisen mit zuweilen deprimierenden Schlussfolgerungen an die Ränder Europas; um ihre Vergangenheit geht es ebenso wie um ihre ungewisse Zukunft.

René Wildangel ist Historiker und schreibt unter anderem zum Schwerpunkt Naher/Mittlerer Osten.

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SZ vom 16.08.2021
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