Europapolitik:Ideen aus einer anderen Zeit

Europapolitik: Am 1. Juli übernimmt Deutschland für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft. Die Agenda muss nun neu geschrieben werden.

Am 1. Juli übernimmt Deutschland für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft. Die Agenda muss nun neu geschrieben werden.

(Foto: Thierry Roge/AFP)

Die Corona-Krise hat das deutsche Programm für die bald beginnende EU-Ratspräsidentschaft zunichte gemacht. Auch die Logistik macht Ärger.

Von Daniel Brössler, Berlin

Das Papier trägt den schönen Titel "Unser Weg: innovativ, gerecht, nachhaltig". Es ist recht frisch datiert vom 17. März 2020 - und liest sich doch wie ein Dokument aus einer anderen Zeit. "Wir setzen uns für ein innovatives Europa ein, das auf den zentralen Säulen Ausbau digitaler und technologischer Souveränität, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und Gestaltung einer nachhaltigen und stabilen Finanzarchitektur fußt", heißt es zu Beginn des 18 Seiten langen Entwurfs für das Programm der am 1. Juli beginnenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Das klingt nach jener Welt vor der Corona-Pandemie, in der es auch große Probleme und Herausforderungen gab, aber keine, in denen es Tag für Tag für viele Europäer selbst um Leben und Tod gegangen wäre. Und so ist der Entwurf, der der Süddeutschen Zeitung vorliegt, nach nicht einmal vier Wochen in Teilen Makulatur.

Im Auswärtigen Amt und in der Bundesregierung ist man sich darüber im Klaren. Die weltweite Corona-Krise hat monatelange Planungen über den Haufen geworfen. Selbstverständlich habe die Krise Auswirkungen auf die Ratspräsidentschaft, heißt es im Auswärtigen Amt. Das gelte inhaltlich, aber auch für die geplanten Veranstaltungen. In der Bundesregierung werde "an Alternativen gearbeitet". Das allerdings erweist sich als ziemlich dickes Brett. In einem Drahtbericht aus Brüssel warnte der deutsche Botschafter bei der EU, Michael Clauß, zu Wochenbeginn vor den massiven Auswirkungen der Krise. In den Mittelpunkt rückten "fortan die Handlungsfähigkeit der europäischen Institutionen, Krisenmanagement, Exit und Wiederaufbau - womöglich die Aufrechterhaltung der EU-Integration an sich", heißt es in dem Vermerk, über den zuerst der Spiegel berichtete.

Tatsächlich hat sich für die Bundesregierung eine schwierige in eine fast unlösbare Aufgabe verwandelt. Schon vor der Corona-Krise galt die Präsidentschaft als problematisch wegen der großen Brüche in der EU und der Kontroversen um einen neuen Haushaltsrahmen für 2021 bis 2027. Nun aber geht es für die EU um "die größte Bewährungsprobe seit ihrer Gründung", wie es Kanzlerin Angela Merkel formuliert hat. Die Antwort, sagte Merkel, könne nur heißen: "Mehr Europa, ein stärkeres Europa, ein gut funktionierendes Europa". Das könnte schon das neue Motto für die Ratspräsidentschaft sein. Doch das gibt es bisher so wenig wie einen neuen Entwurf für das Programm. Zwar drängt die Zeit, aber in der Bundesregierung wartet man erst einmal ab, was bei den laufenden Verhandlungen über riesige Kreditprogramme und Finanzhilfen für die besonders getroffenen Länder herauskommt.

Im aktuellen Entwurf stehen die Formulierungen im Kapitel "Nachhaltige Finanzmarktarchitektur, stabile Finanzpolitik und Steuergerechtigkeit" jedenfalls noch ganz in der Tradition strenger deutscher Vorkrisen-Haushaltspolitik. "Für uns steht bei der aktuellen Überprüfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts daher die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen im Vordergrund", heißt es da. Und, als gehe es da um Gefahren in ferner Zukunft, steht geschrieben: "Dies schafft gerade auch in Krisensituationen den nötigen Handlungsspielraum."

Der Krise, die längst da ist, widmet sich das Programm bisher nur in einigen Sätzen in der Abteilung Gesundheitspolitik. Der Ausbruch des Coronavirus habe "einmal mehr deutlich gemacht, dass in einer globalisierten Welt internationale Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich unabdingbar ist". Diskutiert werden sollte "wie Lieferengpässe bei Arzneimitteln in der EU verhindert, Lieferketten sichergestellt und Abhängigkeiten bei der Wirkstoffherstellung vermieden werden können". In allen anderen Bereichen steht Programmatisches zur Corona-Krise noch aus. Da geht es bei Weitem nicht nur um die Wirtschaft. Das "Ermächtigungsgesetz zur Aushebelung des Parlamentarismus" in Ungarn dürfe keinen Bestand haben, fordert etwa der europapolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Michael Link.

Hinzu kommt ein logistischer und protokollarischer Albtraum für die deutschen Diplomaten. Klar ist, dass wohl viele Sitzungen per Video abgehalten werden müssen, doch damit ist die EU-Technik in Brüssel überfordert. Theoretisch steht bisher auch noch ein voller Kalender mit Terminen in Berlin, Wiesbaden, Bonn, Wolfsburg und etlichen anderen Orten. Abgesagt werden soll bis Ende April erst einmal keines der Treffen, doch dass sie alle wie geplant werden stattfinden können, glaubt kaum jemand. Schon jetzt ist klar, dass der EU-China-Gipfel im September in Leipzig mit Dutzenden Staats- und Regierungschefs, Hunderten Journalisten und Tausenden Polizisten kaum so laufen können wird wie geplant. Gedacht ist nun an eine Videoschalte.

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