Süddeutsche Zeitung

Europapolitik:Fahnenflucht

Die Unionsfraktion legt in der EU-Politik aus Rücksicht auf die Europaskeptiker im Bundestag eine Vollbremsung hin. "Substanzielle Fortschritte" bei Reformen glaubt sie nicht erzielen zu können.

Von Cerstin Gammelin, Berlin

Am Tag nach der Klausur des Bundeskabinetts in Meseberg hatte die Unionsfraktion am Donnerstag eine dringende Botschaft loszuwerden. Die "innenpolitisch nicht ganz einfache Situation" erlaube es nicht, zügig europäische Reformen zu verabschieden, sagte Unionsfraktionsvize Ralph Brinkhaus in Berlin. "Ich sehe nicht, dass wir auf dem Gipfel Ende Juni substanzielle Fortschritte erzielen", so der CDU-Politiker. Die größte Fraktion im Bundestag halte Eile nicht für geboten. "Wenn es so ist, dass wir substanzielle Schritte erst mit der neuen EU-Kommission machen können, dann ist es so."

Brinkhaus machte damit deutlich, dass die Union nicht gewillt ist, für europäische Reformen ihre Regierungsmehrheit aufs Spiel zu setzen. Die Europawahlen finden kommendes Jahr im Mai statt, eine neue Kommission übernähme planmäßig Ende 2019 die Geschäfte. Zu diesem Zeitpunkt hätte der französische Präsident Emmanuel Macron die Hälfte seiner Amtszeit hinter sich, seine europäischen Reformpläne würden als gescheitert angesehen werden.

Europäischer Währungsfonds? Eigener Haushalt? Den Euro für Bulgarien? Lieber nicht

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte bei ihrem Antrittsbesuch in Paris Mitte März zugesagt, jetzt gemeinsam die europäischen Reformvorhaben angehen zu wollen und ein Zieldatum genannt: "Wir müssen bis Juni unbedingt Ergebnisse erzielen." Ende Juni findet in Brüssel ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschef statt, bis dahin wollte sich die große Koalition über die von Macron vor sieben Monaten vorgelegten Vorschläge zur EU-Reform abgestimmt haben, darunter zur Euro-Zone und zur Asylpolitik.

Weil man nicht genau wissen kann, ob Merkel mit den "Ergebnissen" tatsächlich auch "substanzielle Fortschritte" bei den Reformen gemeint hatte, ist nicht eindeutig, ob Brinkhaus seiner Chefin widersprochen hat. Klar ist aber, dass der Fraktionsvize eine brisante Botschaft in die europäischen Hauptstädte geschickt hat. Sie lautet: Selbst wenn Merkel substanziellen Fortschritt wollte, wird sie ihn gegen den Bundestag nicht durchsetzen können. Und dort, so Brinkhaus, werden die Unionsabgeordneten kaum europäischen Reformplänen zustimmen, die so interpretiert werden könnten, dass Deutschland für andere Staaten zahle. Solche Beschlüsse würden europaskeptische Parteien wie AfD und Linke sowie "zunehmend auch die FDP" beflügeln. Es sei deshalb der Union kaum möglich, einem Europäischen Währungsfonds oder einem eigenen Haushalt für die Euro-Zone zuzustimmen. Oder dem Beitritt Bulgariens in den Euro. Schon bei der Abstimmung über das dritte griechische Kreditprogramm im Jahr 2015 habe es mehr als 60 Abweichler bei der Union gegeben. "Das können wir uns nicht mehr leisten", sagte Brinkhaus. "Dann wäre die Mehrheit futsch".

Brinkhaus sagte, seine Fraktion werde sich in den nächsten Tagen mit der SPD abstimmen. Er gehe davon aus, "dass wir die Geschichte so hinkriegen, dass wir zusammenbleiben". Die SPD hatte unter dem damaligen Vorsitzenden Martin Schulz bei den Koalitionsverhandlungen gedrängt, künftig eine offensive Europapolitik zu betreiben. Nach dem Abgang von Schulz drängt allerdings niemand mehr. Im Bundeskanzleramt ist dasselbe Personal für Europa zuständig wie vorher. Im Bundesfinanzministerium sitzt zwar mit Olaf Scholz ein Sozialdemokrat. Dass Europa bei ihm ganz vorne steht, ist bisher nicht zu erkennen.

Die Union bemüht sich zudem, Scholz nicht allzu viel europapolitischen Spielraum zu lassen. "Europa muss weg von den Finanzministern kommen", sagte Brinkhaus. Es sei ein "Fehler", Europa auf Geld zu reduzieren. Es müssten die gemeinsame Terrorbekämpfung oder der Schutz der Außengrenzen gestärkt werden. Es ist nicht ohne Ironie, dass die Unionsfraktion ausgerechnet jetzt, da sie nicht mehr den Finanzminister stellt, so dringend fordert, den Einfluss des Finanzministeriums auf die Europapolitik zu begrenzen.

Brinkhaus war es noch wichtig zu versichern, dass die Union nicht als Bremser in Europa wahrgenommen werden wolle, sondern "als hinterfragendes Element". Sie schalte sich frühzeitig ein, um zu verhindern, dass auf EU-Gipfeln Beschlüsse getroffen würden, die sie später nur abnicken könne. "Wir wollen vorher eingebunden sein". Das wiederum klang wie eine dringende Botschaft an Merkel.

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SZ vom 13.04.2018
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