Europapolitik:Die Schrumpfung der EU

Die Bundesregierung ist in Europa so mächtig wie nie zuvor. Gleichzeitig möchte Finanzminister Wolfgang Schäuble die Kommission beschneiden. Dahinter steckt eine Strategie.

Von Cerstin Gammelin

Die Nachrichten erscheinen widersprüchlich. Da baut die Bundesregierung in den vergangenen zwei Jahren ihren Einfluss auf die Europäische Kommission so stark aus, dass mittlerweile jeder zehnte entscheidende Posten deutsch besetzt ist. Was konkret bedeutet, dass Europas einzige und mächtige Gesetzgebungsbehörde von keinem anderen Land so stark kontrolliert wird wie von Deutschland. Zur selben Zeit trägt Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble den Plan vor, genau dieser Europäischen Kommission die Aufsicht über Haushalte, Binnenmarkt und Wettbewerbsrecht zu entziehen, was auf eine entscheidende Schwächung der Behörde hinausliefe.

Beide Vorgänge sind geeignet, grundsätzlichen Zweifel an dem Willen der Bundesregierung aufzuwerfen, die europäische Integration durch den Ausbau der Institution voranzutreiben. Ein wenig freilich kann dieser Zweifel relativiert werden durch einen Blick auf die gesamteuropäische Lage. Die Europäische Union droht erstmals in ihrer Geschichte zurückgebaut zu werden. Nicht nur, weil über Griechenland die Drohung schwebt, bei andauernder Verletzung der europäischen Regeln aus der Gemeinschaft ausscheiden zu müssen. Sondern auch, weil die britischen Bürger demnächst darüber abstimmen sollen, ob es sich lohnt, Mitgliedstaat der Europäischen Union zu bleiben.

Der Bundesregierung passt das Gebaren von Juncker nicht

Großbritannien ist ökonomisch ein wichtiger Verbündeter Deutschlands und damit entscheidend für das Gleichgewicht in Europa. Beide Länder profitieren stark vom Binnenmarkt, pochen auf Freihandel und strenge Haushaltsregeln. Das Gegengewicht bilden Frankreich und Italien, die traditionell eine andere ökonomische Philosophie verfolgen. So, wie es jetzt ist, mit allen vier Ländern, lassen sich die Interessen austarieren.

Ob dieses Austarieren noch möglich ist, wenn Großbritannien geht, ist aus deutscher Sicht zumindest mit einem Fragezeichen zu versehen. Der Schäuble'sche Vorschlag, die Aufsicht über Haushalte, Binnenmarkt und Wettbewerb in eine unabhängige Behörde auszulagern, kommt sicherlich britischen Interessen entgegen, sich in Europa auf die ökonomische Zusammenarbeit zu konzentrieren - und jedwede weitere politische Integration zu meiden.

Die Kehrseite von Schäubles Entgegenkommen ist, dass sich der Minister dem Verdacht aussetzt, dass er die Institutionen, die er angeblich stärken will, bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen bereit ist.

Der Bundesregierung passt es nicht, dass sich die von Jean-Claude Juncker geführte EU-Kommission anmaßt, gelegentlich als EU-Regierung aufzutreten und das Regelwerk, das sie klassischerweise nur hüten soll, politisch interpretiert - was auch das neue deutsche Personal nicht verhindern kann. Daraus den Schluss zu ziehen, die EU-Kommission in eine politische (unbedeutende) und ökonomische (bedeutende) Behörde zerschlagen zu müssen, legt nahe, dass der Rückbau Europas in Berlin als das geringere Übel im Vergleich zu einer EU-Regierung angesehen wird.

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