Süddeutsche Zeitung

Europaparlament:Mehr als nur eine Schwatzbude

Die Abgeordneten feiern den 70. Geburtstag ihres Hauses - mit Stolz. Aber sie fordern auch mehr Kompetenzen.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Das Europaparlament beschäftigt sich diese Woche in Straßburg auch mit der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar und wird dazu am Donnerstag eine Resolution verabschieden. Es wird bestimmt eine wortgewaltige Resolution werden. Sie wird die Missachtung von Menschenrechten in Katar ebenso geißeln wie die Rolle des Fußball-Weltverbands Fifa. Und natürlich stellt sich die Frage: Fällt so etwas wie eine Fußball-WM überhaupt in die Zuständigkeit des Europaparlaments?

Das Parlament überspiele die eigene Machtlosigkeit mit einer Überdosis an Moral - so etwas bekommt man sogar in den anderen Institutionen der EU zu hören, in der Kommission und im Rat der 27 Mitgliedsländer. Andererseits gehören starke Botschaften zur Identität dieses Hauses. Von "Symbolismus" sprach Roberta Metsola, die aktuelle Präsidentin, als sie an diesem Dienstag die Feierstunde zum 70-jährigen Bestehen des Europaparlaments eröffnete.

"Das Europäische Parlament ist zum einzigen direkt gewählten, mehrsprachigen, mehrparteilichen und transnationalen Parlament der Welt geworden", sagte Metsola bei der Feierstunde im Straßburger Plenum. Sie erinnerte aber auch daran, wie mühsam es war und weiterhin ist, das Europaparlament zu einem wirklichen Parlament zu machen.

Im Vergleich zu nationalen Parlamenten fehlen noch viele Kompetenzen

"Gemeinsame Versammlung" hieß das Gremium am Anfang, gegründet 1952 mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Sie hatte ausschließlich beratende Funktion, die 78 Mitglieder wurden von den nationalen Parlamenten entsandt. 1962 entschieden die Abgeordneten, ihrer Versammlung den Namen "Europäisches Parlament" zu geben, erst 1979 fanden die ersten direkten Wahlen statt.

Mit jedem großen europäischen Vertrag wuchsen auch die Kompetenzen des Hauses. Aktuelle Rechtsgrundlage ist der Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2009. Das "Mitentscheidungsverfahren" ist zur gängigen Praxis geworden, Rat und Parlament beschließen Gesetze gleichberechtigt. Aber im Vergleich zu nationalen Parlamenten fehlen noch viele Kompetenzen.

Das Europaparlament darf keine eigenen Gesetze einbringen. Es darf auch nicht den Kommissionspräsidenten aus eigener Kraft wählen, das Vorschlagsrecht liegt weiterhin bei den Mitgliedsländern, das Parlament muss nur zustimmen. Ursula von der Leyen, aktuelle Kommissionspräsidentin, ist also keine europäische Regierungschefin, hervorgegangen aus dem Parlament und diesem allein verantwortlich. Sie war bei der Wahl 2019 gar nicht angetreten und bekam den Job trotzdem - anstelle des erfolgreichen EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber.

Gerade nimmt das Parlament einen neuen Anlauf, die eigene Legitimation zu stärken, so soll es bei der nächsten Europawahl 2024 erstmals transnationale Listen geben. Andererseits hat sich in den Krisenlagen der vergangenen Jahre die Praxis durchgesetzt, dass Mitgliedsländer und Rat in einer Art Notstandsgesetzgebung am Parlament vorbei regieren. Der Machtkampf wird weitergehen.

Die erste Präsidentin war die Holocaust-Überlebende Simone Veil

Lange Zeit sei das Europaparlament als "Schwatzbude" verschrien gewesen, sagte der belgische Ministerpräsident Alexander De Croo bei der Feierstunde, aber irgendwann werde es zur "Institution Nummer eins in Europa". Dafür erhielt er selbstverständlich viel Beifall. De Croo war als Gastredner geladen, ebenso wie die französische Regierungschefin Élisabeth Borne und der luxemburgische Ministerpräsident Xavier Bettel. In allen drei Ländern hat das Parlament ein Standbein.

Borne ließ erkennen, dass Frankreich keinesfalls auf den Hauptsitz des Parlaments verzichten will - wohl wissend, dass die meisten Abgeordneten auf die Reisen zu den Plenarsitzungen nach Straßburg gern verzichten und lieber in Brüssel bleiben würden. Zu groß sei die gesamteuropäische Bedeutung Straßburgs, sagte Borne.

Die emotionalste Rede hielt Xavier Bettel, der Mann aus Luxemburg, wo das Parlament einen Verwaltungssitz unterhält. Der Premierminister erinnerte an seine persönliche Heldin Simone Veil, deren Eltern im KZ Bergen-Belsen umkamen, die selbst den Holocaust mit Glück überlebte - und von 1979 zur ersten Präsidentin des Europäischen Parlaments gewählt wurde. Ein wahrhaft historisches europäisches Symbol.

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