SZ Europa:Wählen gehen!

Wahlbrief zur Europa-Wahl

Die Wahlbeteiligung bei Europawahlen ist meistens eher niedrig.

(Foto: dpa)

Damit Wähler den Hintern hochkriegen, ist von "Schicksalswahl" die Rede, obwohl die Europawahlen nicht zu grundlegenden Änderungen führen. Trotzdem ist jede Stimme wichtig.

Europakolumne von Thomas Kirchner

Wählen gehen? Das habe ich, seit ich es durfte, immer gern gemacht. Ich mag es, zu Fuß ins Wahllokal zu laufen. Ich mag es, die Luft zu schnuppern in diesen Feuerwachen oder Grundschulen, die man sonst selten betritt. Und ich schätze die demokratische Beflissenheit, mit der die WahlhelferInnen die Urnenschlitze abdecken. Sie erinnern mich an die wunderbaren grauen "Aufsichtsbeamten", die bei der Losziehung in Wim Thoelkes Spielshow "Der Große Preis" neben der Trommel standen und garantieren sollten, "dass hier alles mit rechten Dingen zugeht".

An mir wird es also nicht gelegen haben, sollten bei der kommenden Europawahl, wie bei allen Europawahlen seit 1979, wieder weniger Menschen ihre Stimme abgeben. Traurig wär's. Aber es kann so kommen. Trotz all der Aufregung um Europa in den vergangenen Jahren. Trotz der stetig wachsenden Bedeutung europäischer Entscheidungen für das Leben jedes Einzelnen. Und trotz aller Kampagnen, die die Menschen auffordern, diesmal aber doch bitte wirklich endlich den Hintern hochzukriegen: Schließlich sei es doch eine "Schicksalswahl" für Europa, und der 26. Mai ein "Schicksalstag", an dem die Zukunft des Kontinents auf dem Spiel stehe.

Schicksal? Ich habe ein Problem mit dem Begriff. Er ist mir zu pompös, zu pädagogisch und, weil er bei jedem Drittliga-Relegationsspiel fällt, zu abgegriffen. Das eigentliche Problem ist aber inhaltlicher Art. "Schicksal" suggeriert, jeder Einzelne könnte theoretisch mit seiner Stimme etwas Grundlegendes verändern, einen echten Wechsel herbeiführen, von der einen in die andere politische Richtung, von hü nach hott. So wie bei nationalen Wahlen, wenn danach die Roten am Ruder sind statt der Schwarzen oder umgekehrt. Als könnte es hinterher ganz anders sein als vorher.

Das ist in Europa, leider, kaum der Fall. Denn im Europäischen Parlament wird es auch nach dieser Wahl im Wesentlichen so weitergehen wie bisher: Die größten Fraktionen, Christdemokraten und Sozialdemokraten, raufen sich zusammen und holen, je nachdem, die Liberalen oder die Grünen an Bord, hin und wieder auch Konservative oder Linke. Sie sind zur Kooperation gezwungen, weil sie wissen, dass sie sich bei fast jedem Gesetzesprojekt auch mit dem Rat der Mitgliedstaaten einigen müssen. Dort wird mit qualifizierter Mehrheit entschieden, das heißt, schon eine kleine Gruppe von Staaten kann alles stoppen (was oft geschieht).

Das bedeutet: Wenn sich die Abgeordneten im Parlament nicht einigermaßen konsensorientiert verhielten, wenn sie etwa auf stur machten wie Labour im House of Commons, dann ginge in der EU nichts mehr voran. Das erklärt die dauerhafte informelle große Koalition in der EU. Ähnlich wie in der Schweiz, nur dass in der EU die Volksrechte fehlen, die Farbe und Abwechslung in die eidgenössische Demokratie bringen.

Das erklärt auch, warum, wenn es um die Ausrichtung der EU-Politik geht, die Europawahlen "nicht so relevant sind", wie es der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte eiskalt auf den Punkt bringt, und nationale Wahlen die EU-Politik eigentlich stärker beeinflussen können. Ich glaube, dass viele Bürger und Bürgerinnen das spüren, diese Diskrepanz zwischen schicksalhafter Ankündigung und der profanen politischen Wirklichkeit im Europäischen Parlament. Vielleicht ist das ein wichtiger Grund, warum sie zu Hause bleiben. Nach dem Motto: Ist doch egal, ob ich abstimme, es ändert sich ja nichts.

Wirklich ändern ließe sich das, wenn man aus der EU eine Demokratie nach nationalem Vorbild machte: wenn die Abgeordneten die ganze Kommission als "Regierung" wählten, die ihnen verantwortlich wäre. Und gleichzeitig der Einfluss der Mitgliedstaaten begrenzt würde. Ob wir das noch erleben werden?

Natürlich sind die Europawahlen trotzdem wichtig. Allein schon, um den Einfluss der EU-Feinde in Grenzen zu halten. Und manchmal, wie bei der Urheberrechtsreform oder bei der Abstimmung über die Einleitung des Artikel-7-Verfahrens gegen Ungarn, kann es selbst im Europäischen Parlament ganz knapp werden. Dann kommt es auf jede einzelne Stimme an. Und jeden Wähler. Also doch: Wählen gehen!

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