Rüge aus Straßburg:"Deutsche Sicherungsverwahrung ist rechtswidrig"

Zum zweiten Mal binnen 13 Monaten wird Deutschland wegen der nachträglichen Sicherungsverwahrung verurteilt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gibt der Klage von vier Straftätern recht.

Deutschland ist vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen Verletzung der Menschenrechte gerügt worden. Die Straßburger Richter haben die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung von Straftätern als Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention bemängelt. Mit den am Donnerstag veröffentlichten Urteilen hatten die Beschwerden von vier Sexualstraftätern Erfolg, die trotz Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen nicht auf freien Fuß gesetzt wurden, weil sie als gefährlich gelten.

Rüge aus Straßburg: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält die deutsche Praxis der rückwirkend verlängerten beziehungsweise nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung für rechtswidrig.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält die deutsche Praxis der rückwirkend verlängerten beziehungsweise nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung für rechtswidrig.

(Foto: AP)

In drei der vier Fälle war die ursprünglich in den Urteilen auf zehn Jahre befristete Sicherungsverwahrung nachträglich verlängert worden, nachdem 1998 in einem Gesetz die Befristung der Sicherungsverwahrung aufgehoben worden war. Anders als eine Freiheitsstrafe dient die Sicherungsverwahrung nicht der Sühne der Schuld. Vielmehr soll die Bevölkerung vor gefährlichen Tätern geschützt werden, die ihre Strafe bereits abgesessen haben, aber im juristischen Sinn kein Fall für die Psychiatrie sind.

Es ist das zweite Mal innerhalb von 13 Monaten, dass Deutschland wegen der Anordnung von nachträglicher Sicherungsverwahrung verurteilt wurde. Bereits im Dezember 2009 hatte der Straßburger Gerichtshof diese Praxis als Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot ("Keine Strafe ohne Gesetz") gerügt. Der Gerichtshof stellte nun abermals einen Verstoß gegen dieses sogenannte Rückwirkungsverbot sowie gegen das Grundrecht auf Freiheit fest. Die Beschwerde eines der Kläger wegen "unmenschlicher Behandlung" wies das Gericht hingegen ab. Über eine fünfte Beschwerde wurde nicht entschieden, weil der Kläger sie nicht weiter verfolgt hatte.

In allen Fällen geht es darum, dass Straftäter nach der Haftverbüßung weiter festgehalten werden, obwohl es die Gesetze zur Sicherungsverwahrung bei ihrer Verurteilung in dieser Form nicht gab. Nach dem ersten Urteil aus Straßburg kamen einige Straftäter frei.

Wackelige Neuregelung

Die Bundesregierung verabschiedete im Dezember 2010 ein Reformgesetz, mit dem die nachträgliche Sicherungsverwahrung für neue Fälle grundsätzlich abgeschafft wurde. Für Menschen, die bereits in Haft sitzen, ist sie aber noch möglich. Die Bundesregierung versucht mit ihrem neuen Gesetz, einen Teil der bereits freigelassenen Täter wieder unterzubringen, nicht in Gefängnissen, sondern in speziellen Anstalten - vorausgesetzt, sie sind "psychisch gestört". Das aktuelle Urteil aus Straßburg könnte diese Neuregelung wieder in Frage stellen.

Zudem erwarten die Juristen, dass der EGMR sich irgendwann auch deutlicher zur nachträglichen Sicherungsverwahrung äußert. Die Regelung, 2004 per Bundesgesetz eingeführt, ist juristisch umstritten. Sie wurde angewandt, wenn sich eine besondere Gefährlichkeit erst in der Haft herausstellte. Mit der Neuregelung der Sicherungsverwahrung wurde sie für Neufälle im Grundsatz allerdings abgeschafft.

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