Der Nationalrat, die große Kammer des Schweizer Parlaments, hat vor wenigen Tagen eine Erklärung zum Klima-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verabschiedet. Oder besser: eine Kampfansage. Auf Klage der sogenannten Klima-Seniorinnen, einer Gruppe von „2500 Frauen im Pensionsalter“, wie sie sich selbst bezeichnen, war die Schweiz am 9. April verurteilt worden, die notwendigen Maßnahmen im Kampf gegen den Klimawandel zu ergreifen – ein spektakulärer Richterspruch, mit dem der Gerichtshof juristisches Neuland betreten hat.
Damit habe er „Grenzen der zulässigen Rechtsfortentwicklung überstrapaziert“, kritisiert nun der Nationalrat, der Gerichtshof setze sich damit „dem Vorwurf eines unzulässigen und unangemessenen gerichtlichen Aktivismus“ aus. Die Schweiz habe ihre Verpflichtungen bereits erfüllt und sehe keinen Anlass, dem Urteil zu folgen.
„Es ist eher ein diplomatischer Prozess.“
Der Nationalrat ruft also, wie zuvor die kleine Kammer (Ständerat), zum politischen Ungehorsam gegenüber dem Straßburger Gerichtshof auf, dessen Urteile die Schweiz, wie alle 46 Mitglieder des Europarats, als rechtsverbindlich anerkannt hat. Das klingt aufsässig, bleibt aber rechtlich erst einmal ohne Folgen. Die maßgebliche Instanz, die sich zur Umsetzung des Urteils zu verhalten hat, ist die Schweizer Regierung, also der Bundesrat.
Der Schweizer Bundesrat muss dem Ministerkomitee des Europarats – das die Umsetzung der Straßburger Urteile überwacht – innerhalb eines halben Jahres einen Aktionsplan vorlegen. Die Frist läuft also am 9. Oktober ab, aber die Leiterin der Abteilung zur Umsetzung der Urteile signalisiert bereits, dass sie auf neun Monate verlängerbar sei: „Die Schweiz hat also immer noch viel Zeit, um das Komitee zu informieren, was sie tun wird“, sagt Clare Ovey der SZ.
Die Durchsetzung eines Straßburger Urteils darf man sich nicht so vorstellen, dass da ein Gerichtsvollzieher mit einem Vollstreckungstitel in Marsch gesetzt wird. „Es ist eher ein diplomatischer Prozess“, erläutert Ovey. Die Schweiz müsse zunächst mitteilen, wie sie das Urteil verstehe, welche konkreten Maßnahmen sie ergreifen wolle und welcher Zeitplan ihr da vorschwebe. Bei komplexen Fällen könne das länger dauern, und komplex sei das Klima-Urteil ganz sicher. „Es ist Neuland für das System der Menschenrechtskonvention, für uns alle.“ Viermal pro Jahr trifft sich das Ministerkomitee, um über die Umsetzung von Urteilen zu beraten. Mit einer Schweizer Reaktion bis zum Jahresende könnte sich das Komitee mithin in der Juni- oder Septembersitzung 2025 befassen.
Irgendwann muss es ein Ergebnis geben
Das heißt aber auch: An irgendeinem Punkt will das Ministerkomitee Ergebnisse sehen – falls nicht, wird es selbst Vorgaben machen. Die Mittel des Europarats, renitente Staaten mit Sanktionen zu belegen, sind zwar begrenzt. In Ausnahmefällen kann der Fall an den Gerichtshof zurückgegeben werden. Theoretisch wäre auch die Aussetzung des Stimmrechts oder gar der Ausschluss aus dem Europarat denkbar. Im Fall von Aserbaidschan – damals ging es um den inhaftierten Oppositionsführer Ilgar Mammadow – hat das Ministerkomitee tatsächlich einmal den Rauswurf angedroht. Doch am Ende drehte der Staat bei. Wie sich überhaupt die mitunter harsche Rhetorik gegen den Gerichtshof am Ende oft in Kompromissen auflöst. „Es ist sehr selten, dass eine Regierung es komplett ablehnt, ein Urteil umzusetzen“, sagt Ovey.
Aus Sicht der Klägerinnen ist jedenfalls klar, dass die Schweiz sich bewegen muss. Der Gerichtshof habe konkret aufgezeigt, wo die Schweizer Klimapolitik ungenügend sei, erläutert Cordelia Bähr, Anwältin der Klima-Seniorinnen. „Namentlich hat die Schweiz ein nationales CO₂-Budget zu berechnen“, und zwar im Verhältnis zum global verbleibenden Budget. Die Klimaziele müssten entsprechend angepasst werden. Welche Maßnahmen genau die Schweiz zu ergreifen habe, dazu mache das Gericht keine Vorgaben. Aber die Defizite müssen behoben werden.
Der Nationalrat findet übrigens, aus dem Übereinkommen von Paris lasse sich nicht ableiten, dass die Schweiz ein nationales Treibhausbudget ausweisen müsse. Damit lässt sich eines vorhersagen: Sollte der Schweizer Bundesrat die trotzige Haltung der Parlamentarier übernehmen, wird es zum Konflikt mit dem Europarat kommen.