Migration:EU-Richter stoppen deutsche Verzögerungstaktik

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Anträge auf Familiennachzug bleiben in deutschen Behörden häufig so lange liegen, bis die im Ausland wartenden Töchter oder Söhne volljährig geworden sind - und damit das Recht auf Familienzusammenführung entfällt. Der Europäische Gerichtshof hat diese umstrittene Regelung nun gekippt.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Nach der großen Fluchtbewegung des Jahres 2015 war der Familiennachzug zum Reizwort in der Flüchtlingsdebatte geworden. Kritiker schürten die Angst, hinter jedem und jeder Geflüchteten stehe eine Großfamilie, die auf ihre Einreise nach Deutschland warte. Solche Szenarien haben sich zwar nicht bewahrheitet. Aber nach wie vor werden entsprechende Anträge von deutschen Behörden oft schleppend behandelt, sodass minderjährige Betroffene vor einem Bescheid volljährig werden. Konsequenz: Der Antrag wird abgelehnt, weil erwachsene Kinder keinen Anspruch auf Zusammenführung mit ihrer Familie haben. Nun hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, dass eine solche Praxis den Sinn und Zweck des Flüchtlingsschutzes unterläuft und gegen europäische Grundrechte verstößt.

In einem Fall hatte eine seit Jahren in der Türkei lebende junge Frau aus Syrien ein Visum beantragt, um zu ihrem Vater nach Deutschland ziehen zu können. Er war 2015 nach Deutschland gekommen und hatte im Jahr darauf Asyl beantragt - da war die Tochter noch 17 Jahre alt. Doch als das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) ihn als Flüchtling anerkannte, schrieb man das Jahr 2017, da war die Tochter schon 18. Sie stellte zwar umgehend ihren Antrag auf Nachzug, wurde aber abgewiesen. Für Erwachsene gebe es keinen Familiennachzug.

Zwar hatte der EuGH schon in Urteilen von 2018 und 2020 signalisiert, dass man es den Asylbehörden nicht überlassen darf, mit zögerlicher Antragsbearbeitung solche Fälle einfach bis zum 18. Geburtstag der schutzbedürftigen jungen Menschen liegen zu lassen und so den Anspruch auszuhebeln. Dennoch sah das Bundesverwaltungsgericht immer noch Klärungsbedarf und fragte beim EuGH an, auf welchen Zeitpunkt für die Frage der Minderjährigkeit denn nun abzustellen sei.

Entscheidend ist das Datum beim Asylantrag

Die Antwort des EuGH ist eindeutig: Maßgeblich ist das Datum, an dem der geflüchtete Vater seinen Asylantrag gestellt hat. Und eben nicht der Tag des Visa-Antrags der Tochter, den sie ja nicht stellen kann, bevor der Vater in Deutschland seinen Bescheid erhalten hat. Der Gerichtshof stellt hier eine durchaus praxisnahe Betrachtung bürokratischer und politischer Widerstände im Umgang mit Geflüchteten an: Nach seiner Einschätzung hätten "die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte sonst nämlich keine Veranlassung, die Anträge der Eltern Minderjähriger mit der gebotenen Dringlichkeit ... vorrangig zu bearbeiten". Dies aber gefährde die in der EU-Grundrechtecharta garantierte Achtung des Familienlebens sowie den Schutz minderjähriger Kinder.

Behördliche Verzögerungstaktik darf nicht belohnt werden, soll das heißen. Dies gilt auch im umgekehrten Fall, wenn Kinder Eltern nachholen, wie der EuGH in einem zweiten Urteil entschieden hat. Dort waren drei syrische Jugendliche als unbegleitete Minderjährige nach Deutschland gelangt - und ihre Eltern beantragten vom Ausland aus den Nachzug. Die Söhne waren als Flüchtlinge anerkannt, aber inzwischen volljährig geworden, sodass die deutschen Behörden den Nachzugsantrag der Eltern ablehnten. Auch hier gilt laut EuGH: Entscheidend ist, dass die Kinder noch minderjährig waren, als sie selbst ihren Antrag auf Flüchtlingsanerkennung stellten. Zugleich aber betont das Gericht in beiden Fällen, dass der Antrag auf Nachzug binnen drei Monaten nach der Anerkennung gestellt werden muss.

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Die Flüchtlingsorganisation "Pro Asyl" wertet die Urteile als großen Sieg. Nach der bisherigen Logik der Behörden "büßen die Familien dafür, dass die deutsche Bürokratie so langsam arbeitet." Die Bundesregierung müsse nun die "notwendigen Schritte zur Beschleunigung des Familiennachzugs gehen". Nach den Erkenntnissen der Organisation liegen allein die Wartezeiten bis zur Stellung eines Antrags in den deutschen Auslandsvertretungen bei zwölf bis 18 Monaten. Und daran schließe sich eine weitere, oftmals langwierige Prozedur an.

Die Urteile des EuGH gelten lediglich für die Fälle einer Anerkennung des Flüchtlingsstatus, nicht für den sogenannten "subsidiären Schutz", der oft für Bürgerkriegsflüchtlinge gewährt wird. Für diese Gruppe hatte Deutschland den Familiennachzug 2016 zunächst ausgesetzt und vom Sommer 2018 an auf 1000 pro Monat gedeckelt.

Geklärt hat der EuGH zudem, was der Begriff "tatsächliche familiäre Bindungen" bedeutet - die eine weitere Voraussetzung für einen Familiennachzug sind. Die bloße Verwandtschaft in direkter Linie genügt laut EuGH zwar nicht. Andererseits dürften hier die Anforderungen nicht zu streng sein. Gelegentliche Besuche und regelmäßige Kontakte seien ausreichend, um solche Bindungen plausibel zu machen.

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