Europäische Union:Vor dem Bruch

Ungarische Auszeichnung für Kohl

Bessere Zeiten: Ungarns Regierungschef Viktor Orbán überreicht dem damaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl im September 2000 die Millenniums-Medaille der Republik Ungarn.

(Foto: Attila Kisbenedek/dpa)

Der Ausschluss der Fidesz-Abgeordneten aus der Europäischen Volkspartei rückt näher. Die Mitgliedschaft der ungarischen Regierungspartei ist nicht zuletzt ein Erbe von Altkanzler Helmut Kohl.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Die seit Langem offene Frage, ob die ungarische Fidesz-Partei des immer autoritärer regierenden Ministerpräsidenten Viktor Orbán aus der Europäischen Volkspartei (EVP) ausgeschlossen wird, steuert auf eine Entscheidung zu. Am Mittwochabend wollen sich die Abgeordneten der EVP-Fraktion im Europaparlament virtuell zu einer Sitzung zusammenschalten. Punkt 4 der Tagesordnung lautet: "Debatte über den Antrag, Tamás Deutsch aus der Fraktion auszuschließen und möglicherweise Abstimmung".

Wie Orbán und der nach einer Sex-Orgie im Brüsseler Schwulenviertel abgetretene EU-Abgeordnete József Szájer gehört Tamás Deutsch zu den Gründern von Fidesz. Er leitet im EU-Parlament die Gruppe der zwölf Fidesz-Abgeordneten und hatte Ende November den EVP-Fraktionschef Manfred Weber zwei Mal mit der Gestapo in Verbindung gebracht. Auf die Aussage des CSU-Politikers in der Debatte über den Rechtsstaatsmechanismus, wonach jemand, der nichts zu verbergen habe, auch keine Angst haben müsse, hatte Deutsch in Interviews entgegnet, den Slogan hätten sowohl die Gestapo wie der Geheimdienst AVH im kommunistischen Ungarn verwendet.

Für den ÖVP-Abgeordneten Othmar Karas geht es um Selbstachtung

Nach dieser "unerträglichen und unverantwortlichen Aussage" fordert nun Othmar Karas den Rauswurf von Tamás Deutsch. Dem Abgeordneten der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) geht es darum, eine Entscheidung zu erzwingen: "Diese Worte müssen zu einer Abstimmung führen." Er spricht von einer Frage der Selbstachtung aller EVP-Abgeordneten und sagt der SZ: "Es geht hier um etwas Grundsätzliches, nämlich um unsere Haltung und unser Selbstverständnis, wie wir die Zukunft Europas gestalten wollen." Karas und seine etwa 40 Unterstützer beklagen auch, dass Deutsch sich nicht glaubhaft entschuldigt habe und die Aufregung als persönliche Befindlichkeit abtut.

Der Österreicher betont, dass er genauso gehandelt hätte, wenn jemand anders aus der Fraktion wie Tamás Deutsch geredet hätte: "Was uns gerade in der EVP und in den meisten anderen Parteien vereint, ist doch das Verständnis der EU als Antwort auf Gewalt, Unfreiheit und Diktatur." Darin und in der Ablehnung des Antisemitismus liegt für Karas die Grundlage für die EU: Im Gegensatz etwa zur Sowjetunion, mit der Fidesz-Chef Viktor Orbán die EU gern vergleicht, gebe es heute eben unabhängige Richter sowie Schutz vor Willkür und Vetternwirtschaft. Für Karas ist klar: Fidesz muss raus aus der EVP.

Allerdings ist der 62-Jährige lange genug dabei, um die Dynamik hinter seinem Antrag zu kennen. Käme die Zwei-Drittel-Mehrheit zusammen, um Deutsch auszuschließen, so würden auch die elf anderen Fidesz-Leute austreten. Seit März 2019 ist die Mitgliedschaft von Fidesz in der EVP eingefroren, aber der Fraktion gehören ihre Abgeordnete weiter an. In Brüssel wird gemutmaßt, dass Orbán Fidesz aus der EVP führen würde, wenn die Fraktion seine Leute rauswirft.

Insider berichten, der Frust wegen der Blockade der Corona-Hilfen sei enorm

Insider halten die Wahrscheinlichkeit eines Ausschlusses für "so hoch wie seit zwei Jahren nicht". So sei in der EVP der Frust über Ungarn wegen der Blockade der Corona-Hilfen enorm. Dass am Donnerstag beim EU-Gipfel der Haushalt für die nächsten sieben Jahre freigegeben wurde, dürfte gerade den 23 CDU-Abgeordneten und den sechs CSU-Mitgliedern der EVP-Fraktion helfen. Von dort war oft zu hören gewesen, man wolle Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Suche nach einer Lösung nicht erschweren, indem man Orbán provoziert.

Am Wochenende empfahl Daniel Caspary, der Chef der CDU-Europaabgeordneten, vor dem Treffen der Deutschen am Dienstagmorgen "in Ruhe zu reflektieren, wie wir uns in dieser Frage richtig aufstellen". Caspary, ein ehrgeiziger Baden-Württemberger, verwies auf ein Interview mit Echo 24 aus Tschechien, in dem Tamás Deutsch ungerührt Fidesz-Propaganda verbreitete. Die EU bedrohe die nationale Identität Ungarns, und der Grundkonflikt in Europa bestehe darin, ob "Masseneinwanderung" unterstützt oder abgelehnt werde.

Die Haltung der Abgeordneten von CDU und CSU ist nicht nur deshalb wichtig, weil sie mit 29 Mitgliedern die größte nationale Gruppe sind. Die moderne EVP und auch der Konflikt um Fidesz wäre undenkbar ohne Altkanzler Helmut Kohl. Dieser versammelte im März 1998 wichtige Verbündete in Bonn, um die Macht der Christdemokraten zu stützen. Mit dabei war der Belgier Wilfried Martens, der 23 Jahre lang die Europäische Volkspartei leitete. "Man kann das beste Programm haben, aber wenn einem die Mehrheiten fehlen, dann kann man wenig damit machen", so beschrieb Martens Kohls Denken in seiner 2009 erschienenen Autobiografie.

"Die EVP hat nicht durch Wahlen gewonnen, sondern indem sie Parteien aufgenommen hat"

Deswegen wurde nicht nur Forza Italia von Silvio Berlusconi integriert, sondern es wurden auch in Ost-und Zentraleuropa viele Parteien umworben, die gute Chancen hatten, nach einem EU-Beitritt Regierungsverantwortung zu übernehmen. Auch Fidesz trat in dieser Phase bei; später folgte die bulgarische Gerb-Partei, gegen die in Sofia seit Monaten demonstriert wird, ebenso die SDS des slowenischen Premiers und Trump-Verehrers Janez Janša.

"Die EVP hat nicht durch Wahlen gewonnen, sondern indem sie Parteien aufgenommen hat", lautet das Urteil von Steven Van Hecke, Professor an der KU Löwen. 2004 war ein wichtiges Ziel erreicht: Erstmals seit der Direktwahl des EU-Parlaments 1979 stellen die Sozialisten nicht die größte Fraktion. Als Oppositionsführerin half Merkel mit, Guy Verhofstadt als Chef der EU-Kommission zu verhindern und stattdessen Parteifreund José Manuel Barroso durchzusetzen. Dem Portugiesen folgten in Jean-Claude Juncker und Ursula von der Leyen zwei weitere Christdemokraten. Das Argument: Die EVP hat die Europawahl gewonnen, weil sie die meisten Parlamentarier stellt und deswegen Anspruch auf die wichtigsten Ämter hat. Die größte Fraktion hat zudem die besten Zugriffsrechte auf den Vorsitz der wichtigen Ausschüsse.

Wo die zwölf Fidesz-Abgeordneten nach einem Rauswurf eine neue Heimat im EU-Parlament finden würden, ist offen. Bei den "Europäischen Reformern und Konservativen" (ECR) dominiert Polens Regierungspartei PiS - und auch CDU-Mann Caspary deutet plötzlich an, dass die "Überzeugungen von Fidesz eher zur ECR passen als zu uns". Unklar ist, ob andere EVP-Abgeordnete Fidesz folgen würden. Der Status der EVP als größte Fraktion scheint aber ungefährdet zu sein: Momentan stehen 187 Christdemokraten im EU-Parlament 145 Sozialdemokraten gegenüber.

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