Europäische Union:Voll auf Kredit

Jahrelang waren sie politisch hoch umstritten, nun werden sie kurzerhand ausgesetzt: Die europäischen Regeln für die Kreditaufnahme der Euro-Länder. Der Beschluss soll den Abschwung abfedern, erhöht aber auch das Risiko für eine neue Schuldenkrise.

Von Cerstin Gammelin

Die Europäer wollen erstmals die wichtigsten Grundregeln für die gemeinsame Währung suspendieren. Die europäischen Finanz- und Wirtschaftsminister billigten am Montag den Vorschlag der EU-Kommission, die Grenzen für die erlaubte jährliche Neuverschuldung (nämlich drei Prozent des Bruttoinlandprodukts) und den erlaubten Gesamtschuldenstand (60 Prozent des BIP) vorübergehend außer Kraft zu setzen. Das ist möglich über eine generelle Ausnahmeklausel im europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Die strikten Vorgaben sollen die Staaten, die eine gemeinsame Geldpolitik betreiben, aber keine gemeinsame Fiskalpolitik, dazu verpflichten, so zu wirtschaften, dass keine Schuldenberge entstehen, die die Währungsgemeinschaft gefährden könnten. Die Regeln wurden zwar bisher oft nicht eingehalten, aber als Richtschnur stets respektiert.

Angesichts der dramatischen Auswirkungen des Coronavirus mit Tausenden Toten in allen Euro-Ländern, vor allem aber in Italien und Spanien, darf nun so viel Kredit aufgenommen werden wie nötig. "Der von dem Virus ausgelöste wirtschaftliche Schock und die damit verbundene Krise in diesem Jahr wird zusammen mit den vereinbarten Maßnahmen einen substanziellen Einfluss auf die Haushalte haben", begründen die Finanzminister die temporäre Abkehr. Der Bruch mit den Regeln erscheint in der aktuellen Krisensituation unvermeidbar. Klar ist aber auch, dass die Folgen weitreichend sein werden. Es ist davon auszugehen, dass die Euro-Staaten für die Bekämpfung des Virus so hohe Schuldenberge anhäufen, dass eine weitere Schuldenkrise unausweichlich wird. Im weitaus schlimmeren Fall kann die eine unbegrenzte Verschuldung dazu führen, dass so große Mitgliedsländer wie Italien und Spanien, die jetzt schon riesige Schuldenberge haben, ihre Verpflichtungen nicht mehr werden bezahlen können. Die Feuerkraft des Euro-Rettungsfonds ESM ist mit 500 Milliarden Euro Ausleihkapazität viel zu klein, um beide Staaten und womöglich weitere zu retten.

Dieses Limit werden die Europäische Zentralbank und die Bundesregierung bei ihren gerade beschlossenen Maßnahmen einkalkuliert haben. Die Bundesregierung hat ebenfalls eine Notfallklausel aktiviert, die der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse. Stimmt der Bundestag zu, so darf sie in der Krise unbegrenzt Schulden machen. Ähnlich wie Brüssel vollzieht damit auch Berlin den größtmöglichen Bruch mit den bisher heiligen Haushaltsregeln, keine zusätzlichen Schulden zu machen. Bislang plant der Bund mit bis zu 356 Milliarden Euro an frischem Geld; Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) wird neue Staatsanleihen ausgeben lassen.

An diesem Punkt kommt auch das Corona-Aufkaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) ins Spiel. Die EZB will bis Ende 2020 zusätzlich Staatsanleihen und andere Wertpapiere im Volumen von 750 Milliarden Euro kaufen. Weil dafür normalerweise die Regel gilt, dass die Zentralbank von jedem Staat nur so viele Anleihen kaufen darf, wie dessen Anteil an der EZB ist, waren die Aufkäufe beispielsweise italienischer Papiere begrenzt durch die deutsche Null-Schulden-Politik. Deutsche Anleihen waren rar, und damit der Aufkauf der anderen Staatsanleihen begrenzt. Das ändert sich nun mit den neuen deutschen Schulden.

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